Zurück zum Inhaltsverzeichnis
Bernard Chervet (2006, 2009) erläuterte, dass in der letzten (dualen) Triebtheorie die regressive Anziehung keinerlei Grenzen oder Beschränkungen mehr unterliegt. Die Regression macht bei der Erinnerung an die Verführungsszene (Freud 1950c) oder bei der Wiederkehr zum absoluten Narzissmus der mütterlichen Brust (Freud 1014c) nicht Halt. Erkennbar wird eine extinktive Regressivität (Chervet 2006), die wiederum die Intervention eines Imperativs der Eintragung/Inschrift (Chervet 2009) und die psychische Ausarbeitung unter Federführung des Über-Ichs verlangt. Ebendiese Arbeit wird durch den Prozess der Nachträglichkeit – aprés-coup – ausgeführt. Letztere findet somit ihre Funktion und die Gründe für ihre spezifische zweiphasige Form in zwei manifesten Phasen und einer intermediären Latenzphase. „Nachträglichkeit“/“Après-coup“ ist die Methode, die dem psychischen Apparat für den Umgang mit dieser durch die zahlreichen Traumata des täglichen Lebens bedingten primitiven Qualität der Triebe und für die Einsetzung des Lustprinzips zur Verfügung steht. Damit diese Aufgabe erfüllt werden kann, wird der Prozess in drei Phasen mit drei Operationen unterteilt. Er schlägt zuerst denWeg der Regression ein, verwandelt sodann die regressive Libidoökonimie und lenkt sie abschließend auf den Weg der Progression. Letzterer wird dem psychischen Apparat in Form der Triebstrebungen eingeschrieben, die durch das menschliche Begehren und die Vielzahl seiner Schicksale wiederholt werden. Er wird durch regressive Anziehung und durch die Notwendigkeit aktiviert, progressives Material zu produzieren. Er erweist sich als Modell für ein ideales psychisches Funktionieren und somit als Referenz für jede Beurteilung psychischen Materials. Chervet konzipiert l‘après-coup als einen Prozess der Realisierung und Verwirklichung aller Gedanken und aller psychischen Produktionen – als Prozess des Denkens an sich. Nachträglichkeit bildet somit den basalen Prozess der psychoanalytischen Behandlung, der Heilung ermöglicht. Auf beiden Seiten des Kanals haben Autoren versucht, diese Divergenz zwischen den beiden Strömungen des psychoanalytischen Denkens – einer, die die Nachwirkung (after-effect) einbezieht, und einer anderen, die ohne sie auskommt – zu reduzieren und zu interpretieren. Haydée Faimberg (2005a, b; 2006) brachte die Nachträglichkeit auch mit den Konzepten einer multidirektionalen psychischen Zeitlichkeit und Kausalität in Verbindung (Faimberg 2006, 2013), die die antizipierte „noch nicht bekannte“ Zukunft und Winnicotts (1963) „Angst vor dem Zusammenbruch“ – ein Trauma, das sich in der Vergangenheit bereits ereignet hat, aber in der Zukunft erwartet wird – miteinbeziehen. Faimberg wendet dieses erweiterte Konzept der Nachträglichkeit auf das analytische „Dem Zuhören zuhören“ an, das Konflikte durch eine Verbindung dreier Generationen umdeutet (Faimberg 1998, 2005, b, 2013). Einige britische Analytiker (Birksted-Breen 2003; Sodré 2005, 2007; Perelberg 2007) haben die Komplementarität eines von ihnen so beschriebenen Langzeitspannen-Après-coup (long-time span, LTS), das Freuds ursprünglichem Konzept der Nachträglichkeit entspricht, und einem Kurzzeitspannen- Après-coup (short-time span, STS) betont, das sich auf die von Moment zu Moment erfolgenden „Mikroveränderungen“ der Übertragung in jeder Sitzung bezieht.
369
Made with FlippingBook - Online magazine maker