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Szenen zu konstruieren, die es uns erlaubt, Kausalität in der Psychoanalyse auf nicht- deterministische Weise zu betrachten. So verstanden, zeigt sich, wie Bedeutung und Zeitlichkeit in der Nachträglichkeit miteinander verflochten sind und den Unterschied zwischen dem Mechanismus einer retroaktiven – nachträglichen – Wirkung und dem der Regression zu erkennen geben. Stünde jede Szene für sich selbst (das heißt, wäre die „anteriore“ Szene an sich traumatisch), verwandelte sich die nachträgliche Wirkung in eine Regression. Nachträgliche Wirkung geht nicht mit einer Regression auf etwas einher, das bereits konstituiert wurde. Vielmehr bewirkt sie die Konstruktion der vorangegangenen Szene und ihrer Bedeutung. Die Konstitution des Subjekts ermöglicht die Bedeutung von etwas, dem zuvor keine Bedeutung beigelegt werden konnte. Die Fallberichte über „Emma“ und über den „Wolfsmann“ gelten im Allgemeinen als Paradigmen, um das Problem der Nachträglichkeit in Freuds „Entwuf einer wissenschaftlichen Psychologie“ und im „Wolfsmann“ aufzuzeigen. Das Symptom, das Emma in ihrer Analyse bei Freud schilderte (einen Zwang, nicht allein in einen Kaufladen gehen zu können), beruhte nicht auf einer Spur der Szene, die sich ereignet hatte, als sie sieben Jahre alt war (Szene II); Grundlage waren vielmehr die multiplen Transformationen, denen sie im Anschluss an die Szene im Alter von zwölf Jahren (von Freud als Szene I bezeichnet, die Szene mit den beiden Angestellten) unterzogen wurde. Zu ebendieser Szene assoziiert die Patientin in der Sitzung. Beide Szenen sind durch oberflächliche Verbindungen (Gelächter, Kleidung) miteinander verknüpft. Auf diese Weise erhält die Spur ihren Stellenwert und wird mit der Entstehung des Symptoms traumatisch. Die sexuelle Belästigung an sich ist keine Erklärung für das Symptom. Unter einer lateinamerikanischen Perspektive aber stellt sich die Frage, was passiert, wenn man das Konzept auf diese Weise betrachtet. Diese Sicht könnte eine Lesart nahelegen, die derjenigen der „Drei Abhandlungen“ (Freud 1905) näher kommt und dem Kern des Konzept womöglich widerspräche. Dann wäre zu fragen, ob die Theorie konstruiert oder aktualisiert werden kann. An der ständigen Präsenz des Konzepts der Nachträglichkeit (Pontalis 1968) hat sich durch die Entdeckung der infantilen Sexualität, die durch ebendiese retroaktive Wirkung konstituiert wird, nichts geändert. Der Begriff verschwand auch nicht mit der Formulierung des Todestriebs, denn in diesem Fall stellt sich nicht die Frage der Rückkehr in einen vorausgegangenen Zustand – es ist keine pure A-tergo-Aktion des Triebs, sondern eine „Korrektur“ der Erinnerungsspuren durch neue Erfahrungen. Weit entfernt davon, die Nachträglichkeit auszuschließen, stehen beide Konzepte – infantile Sexualität und Todestrieb – mit dem Begriff im Einklang. Betrachtet man den „Wolfsmann“ unter einer lateinamerikanischen Perspektive, so lässt sich sagen, dass es um nicht mehr und nicht weniger geht als um die Beziehung zwischen der Visualisierung der Urszene und dem Traum von den Wölfen. Als der Patient träumt, sind die Bedingungen geschaffen, unter denen retroaktiv die Umdeutung der Spuren der Urszene erfolgt. Ohne den Traum gäbe es keine Urszene.
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