Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Dies stellt das Konzept des Determinismus infrage, demzufolge es möglich ist, im Voraus zu wissen, was traumatisch sein wird. Szenen aus der frühen und frühesten Kindheit werden nicht als Erinnerungen reproduziert, sondern a posteriori konstituiert. Daran entzündet sich die Kontroverse zwischen der Definition einer traumatischen Szene und einer regressiven Phantasie. III. E. Spezifische Beiträge von lateinamerikanischen Analytikern In psychoanalytischen Schriften lateinamerikanischer Autoren wird „Nachträglichkeit“ unterschiedlich verstanden. Die folgenden Auszüge gewähren einen Blick auf die verschiedenen Aspekte des Konzepts, die je nach Autor betont werden, und auf die Vielfalt an thematischen Feldern, die aus dieser Pluralität der Sichtweisen erwächst. In der Diskussion über das Thema Zeitlichkeit in der Psychoanalyse stellen manche Autoren die Nachträglichkeit trotz erkennbarer Widersprüche neben andere Formen der Zeitlichkeit, die mit ihr koexistieren.Andere Autoren stellen infrage, dass das Konzept in Freuds Werk duchgängig zentralen Stellenwert besitzt. Sie nehmen vielmehr an, das es nach und nach ersetzt oder verändert wurde, als andere Konzepte, etwa die infantile Sexualität oder der Todestrieb, auftauchten. Alternativ wird der Nachträglichkeit zentraler Stellenwert beigelegt; das Konzept wird als gleichrangig betrachtet mit Kur, therapeutischer Effektivität, Kausalität und Bedeutung. Dieser Lesart zufolge besitzt die Nachträglichkeit eine höhere Dichte und Komplexität und weist Verbindungen mit anderen Konzepten auf, die sich auf die Eigenschaften des Primärvorgangs stützen. Leticia Glocer Fiorini (2006) betont die Koexistenz zweier unterschiedlicher Zeitlichkeiten in Freuds Werk: einer progressiven Zeitlichkeit und einer retroaktiven Zeitlichkeit. “In Freuds Werk koexistieren evolvierende Zeitlichkeiten progressiver Entwicklungen wie zum Beispiel die psychosexuelle Entwicklung eines Mädchen und Jungen und ihre erwünschten Ziele (Freud 1926d) mit dem Konzept der retroaktiven Zeitlichkeit, die einem ‚vorangegangenen traumatischen Ereignis‘ a posteriori Bedeutung zuschreibt. Die lineare Chronologie wird also unterbrochen, und das tatsächliche Ereignis muss umgedeutet werden“ (Freud 1918b)“ (S. 18). Ricardo Bernardi (1994) beschreibt unterschiedliche Formen zeitlicher Beziehungen in Freuds Werk, die sich nach Meinung Freuds offenbar nicht gegenseitig ausschließen. A) Ein Modell, demgemäß das Vorher das Nachher determiniert. B) Das Modell der Nachträglichkeit [von Bernardi mit a posteriori übersetzt], demgemäß ein vorausgegangens Ereignis eine neue Bedeutung und psychische

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