Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Haydée Faimberg, die ihre Ausbildung in Argentinien absolvierte und seit vielen Jahren in Frankreich lebt, diskutierte das Konzept der Zeitlichkeit in Freuds Texten und erarbeitete eine Neuformulierung des Konzepts der Nachträglichkeit (Faimberg 1981, 1993, 1995, 1998, 2005, 2012), indem sie den Begriff breiter fasste. Ihr Konzept weicht von Freuds Denken ab, ist aber mit ihm vereinbar. Faimbergs breitere Konzipierung beruht auch auf ihrer eigenen klinischen Arbeit sowie ihrem Verständnis von Winnicotts klinischen Schriften und seinen Grundannahmen. So erklärt Faimberg (2007), dass die breitere Konzipierung mit Blick auf die rückwirkende Zuschreibung einer neuen Bedeutung durch Deutung, aber auch für die erstmalige Zuschreibung von Bedeutung durch Konstruktion wesentlich sei. Sie lokalisiert zwei Momente, eine Phase der Antizipation, die bereits da ist, und eine Phase der rückwirkenden Zuschreibung von Bedeutung, die der Phase der Antizipation psychische Existenz verleiht. Faimberg (2012) lokalisiert auch die implizite Präsenz des Konzepts der Nachträglichkeit in Winnicotts Schriften und definiert eine Art interstitieller Präsenz des Konzepts in seiner Arbeit, einer Präsenz, die aktiv ist, auch wenn sie nicht benannt wird. Ihre Interpretation von Winnicotts Texten „Fragments of an Analysis“ (1955) sowie „Fear of Breakdown“ (1971) bringt die psychische Zeitlichkeit mit der Behandlungserfahrung an sich in Verbindung. Faimberg (2013) geht noch einen Schritt weiter in der Formulierung von Zeitlichkeit und Bedeutung, indem sie diese nicht nur mit dem Wiederholungszwang verbindet, sondern auch mit der väterlichen Funktion. Die Autorin erläutert, dass Winnicott Bedingungen schuf, die es ermöglichten, dass das, was nie geschehen war, geschehen konnte. In der Situation, die noch nicht gekommen ist, lokalisiert sie die Möglichkeit des Auftauchens der väterlichen Funktion im psychischen Funktionieren. Diese Erschaffung von etwas, das nicht existiert, hängt implizit mit der Operation der Nachträglichkeit zusammen. Es sind Operationen, deren Durchführung psychische Orte entstehen lässt, die das Erscheinen des Subjekts möglich machen. Diese Formulierungen der Nachträglichkeit zeigen, wie die Psychoanalyse psychische Veränderung herbeiführt. Jaime Szpilka, ein argentinischer, in Spanien lebender Psychoanalytiker leitet seinen Beitrag aus dem Jahr 2009 mit einer Bemerkung zur Frage der Nachträglichkeit ein, die seiner Ansicht nach für die Theorie und die psychoanalytische Ausrichtung der Behandlung von wesentlicher Bedeutung ist. Er fragt nach den Motiven, die dafür sorgten, dass das Konzept in den Hintergrund gedrängt wurde, und zwar nicht nur, wie er annimmt, von postfreudianischen Autoren, sondern auch von Freud selbst. Szpilka (2009) stellt fest, dass Freud an der Nachträglichkeit festhält und das Konzept auf unterschiedliche Weise anwendet, während er andere Konzepte ausarbeitet. Szpilka formuliert die Überlegung, dass Nachträglichkeit nicht in Bezug auf Chronologie diskutiert werden sollte, sondern unter dem Aspekt der Logik, wobei er sich von jeder Verbindung zum Empirizismus distanziert. Das „Vorher“ ist kein

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