Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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psychoanalytischer Kulturen: „Psychoanalytische Objektbeziehungstheorien können definiert werden als Theorien, welche die Verinnerlichung, die Strukturbildung und die (in Übertragung und Gegenübertragung erfolgende) klinische Reaktivierung der allerersten dyadischen Objektbeziehungen ins Zentrum ihrer strukturtheoretischen und klinischen motivationalen (genetischen und entwicklungspychologischen) Formulierungen rückt“ (Kernberg 2013, S. 1052). Die oben erwähnte Mannigfaltigkeit der Theorien lässt sich anhand der Breite der jeweiligen Definitionen klassifizieren: 1. Im weitesten Sinn verstanden, bezeichnet der psychoanalytische Begriff „Objektbeziehungstheorie“ die psychoanalytische Untersuchung der Beschaffenheit interpersonaler Beziehungen und der Entwicklung intrapsychischer Strukturen, die sich aus verinnerlichten/internalisierten Beziehungen zu Anderen herleiten, im Kontext der gegenwärtigen interpersonalen Beziehungen sowie der Organisation der Persönlichkeit und ihres Funktionierens insgesamt. Unter diesem maximal breiten Blickwinkel betrachtet, deckt die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie sämtliche Schicksale der Beziehung zwischen dem intrapsychischen und dem interpersonalen Feld ab. So gesehen, ist die Psychoanalyse als allgemeine Theorie tatsächlich eine Objektbeziehungstheorie. In dieser breit gefassten Definition hat man die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie einem Zwischenbereich zugeordnet – eine Sprache zwischen der metapsychologischen und der klinischen (vgl. Mayman 1963; Rapaport und Gill 1959). In Nordamerika wurde diese breit gefasste Konzeptualisierung von Schafer (1968) und Modell (1968) aufgegriffen und in die Ich- Psychologie integriert. 2. Einer enger umgrenzten „mittleren“ Definition zufolge bezeichnet der Begriff „Objektbeziehungstheorie“ die allmähliche Bildung „dyadischer“ oder zweipoliger intrapsychischer Repräsentationen (Selbst- und Objektimagines) als Abbildungen der ursprünglichen Säugling-Mutter-Beziehung und ihre Weiterentwicklungen zu dyadischen, triangulären und multiplen inneren und äußeren interpersonalen Beziehungen“ (Kernberg 1977, S. 57). Die entscheidende Gemeinsamkeit zwischen zahlreichen Varianten ist der von Grund auf dyadische/bipolare Charakter der in einem spezifischen affektiven Kontext internalisierten Selbst-Objekt-Einheiten. Dieses Verständnis stützt sich, historisch gesehen, auf die britische Schule von Melanie Klein (1934, 1940, 1946), Fairbairn (1952), Winnicott (1955, 1958, 1960a, 1960b, 1963) und Bowlby (1969); auf die ich-psychologischen Theorien von Erikson (1956), Jacobson (1964) und Mahler (1968; Mahler, Pine und Bergman 1975); sowie in unterschiedlicher Weise auch auf die kulturellen und interpersonalen Schulen (Sullivan 1953). Heute deckt diese Definition auch verschiedene, breit definierte relationale psychoanalytische Theorien ab (S. Mitchell 2000; Greenberg und Mitchell 1983; Harris, 2011). In diesem Sinn verstanden, weist die Objektbeziehungstheorie mitsamt ihren metapsychologischen, klinischen und soziologischen Implikationen Überschneidungen mit zahlreichen Überlegungen auf, die von Loewald (1978, 1988), Lichtenstein (1970), Green (1985, 2002), Rosenfeld (1983), Segal (1991) und Volkan (2006) formuliert

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