Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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von Gabbard (1995) postulierten „common ground“ der Übertragung und Gegenübertragung hinzugesellt. In den Schriften heutiger französischsprachiger Analytiker auf beiden Seiten des Atlantiks klingt auch die Überlegung Loewalds (1986 [1960]) an, dass „die Triebe ebenso primär in Beziehung zu ‚Objekten‘, zur Außenwelt, [stehen] wie das Ich. Mit anderen Worten, Triebe organisieren die Umwelt nicht weniger und werden von ihr nicht weniger organisiert, als dies für das Ich und seine Realität gilt. Diese wechselseitigen Organisation führt zur unentwirrbaren Verbundenheit von ‚Innen- und Außenwelt‘“ (S. 225). Viele europäische objektbeziehungstheoretische und nordamerikanische relationale Schulen berufen sich in ihren Theorien und behandlungstechnischen Überlegungen auch auf Sándor Ferenczis und Michael Balints Konzeptualisierungen der primären Objektliebe und Balints Beschreibung der „Grundstörung“. 3. Die engste Definition der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie behält den Begriff exklusiv der britischen psychoanalytischen Schule von Melanie Klein und Fairbairn sowie den damit eng zusammenhängenden Konzepten Guntrips (1961, 1971), Winnicotts (1955, 1963), Wisdoms (1963, 1971) und Sutherlands (1963) vor. Diese Sichtweise der Objektbeziehungstheorie verstand sich in der Vergangenheit als Gegenpart zur sowohl amerikanischen als auch europäischen Ich-Psychologie. Lateinamerikanische objektbeziehungstheoretische Konzeptualisierungen nehmen in erster Linie auf diese britische (eng definierte) Version Bezug, indem sie sich speziell auf die kleinianische Theorie und ihre Weiterentwicklungen durch Bion, Meltzer und Winnicott stützen. Vor einigen Jahren beschrieben Auchincloss und Samberg (2012) die Objektbeziehungstheorien auf der Grundlage ihrer Ähnlichkeiten und gruppierten sie anhand der wichtigsten Unterschiede. Im Folgenden fassen wir eine leicht modifizierte und aktualisierte Version dieser Sichtweise zusammen. Demnach teilen Objektbeziehungstheorien mehrere Grundannahmen: I. Objektbeziehungen bilden die Grundeinheit des Erlebens. II. Die menschliche Psyche sucht von Geburt an nach Objekten; die basale Motivation der Objektsuche lässt sich auf keine andere Motivationskraft reduzieren. III. Internalisierte Objektbeziehungen werden im Laufe der Entwicklung durch die Interaktion angeborener Faktoren (z.B. der angeborenen Affektdisposition und kognitiven Ausstattung) mit Beziehungen zu anderen Menschen (Bezugspersonen) aufgebaut. IV. Interpersonale Beziehungen spiegeln internalisierte Objektbeziehungen wider; Psychopathologien, insbesondere schwere Psychopathologien wie die Psychose, die Borderline- oder die narzisstische Persönlichkeitsstörung, werden unter dem Aspekt der Objektbeziehungen konzeptualisiert. Diese gemeinsamen Grundannahmen bedingen theoretische Sichtweisen der basalen Aspekte des psychoanalytischen Modells der Psyche einschließlich Motivation, Struktur, Entwicklung und Psychopathologie. Objektbeziehungstheorien bilden eine natürliche Verbindung zur Erforschung der Familien- und der Gruppendynamik sowie zur Entwicklungsforschung, etwa der Entwicklungspsychologie.

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