Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

II. C. Wurzeln im Werk von Sándor Ferenczi und Otto Rank Was das Problem der Objektbeziehungen in der klassischen Triebtheorie anlangt, in der Objekte vom Subjekt auf der Grundlage seiner Befriedigungs- und Frustrationserfahrungen geschaffen werden, so war Sándor Ferenczi einer der ersten Analytiker, die ausdrücklich anerkannten, (i) dass Objektbeziehungen von Beginn des Lebens an existieren und (ii) dass Objektbeziehungen sich in den tiefsten Strukturen der Psyche finden (Haynal 1988; Kohon 1986). Zusammen mit seinen wegweisenden Beiträgen zur Theorie der Behandlungstechnik, die er ausgehend von seinen Analysen regredierter Patienten verfasste, bildete Ferenczis Betonung des frühen Umweltversagens und des frühkindlichen Traumas den Hintergrund, vor dem sich in der britischen Schule die Entwicklung der Objektbeziehungstheorie Kleins, Fairbairns, Balints und Winnicotts vollzog. (Siehe auch die Einträge GEGENÜBERTRAGUNG, INTERSUBJEKTIVITÄT.) Otto Rank führte in seinem Buch Grundzüge einer genetischen Psychologie (Rank 1927) unter der Kapitelüberschrift „Zur Genese der Objektbeziehung“ den Begriff „präödipal“ ein und unterstrich so die Überlegung, dass dem Ödipuskomplex eine Entwicklungsphase vorausgeht – auch dies ein wesentlicher Teil der Ursprünge der Objektbeziehungstheorie. Ranks Beitrag ist einer in einer ganzen Reihe entschiedener Brüche mit der Freud’schen Auslegung der psychosexuellen Entwicklung: „Gewiß ist die Ödipussage eine Doublette der Sphinxepisode, was aber psychologisch so viel bedeutet, als die Wiederholung des Urtraumas auf der sexuellen Stufe (Ödipuskomplex), während die Sphinx das Urtrauma selbst darstellt“ (Rank 1988 [1924], S. 153). Die Identifizierung der Sphinx – der „Würgerin“ – als „Kernsymbol der Urangst“ (ebd., S. 152) postuliert das Trauma als ein relationales Phänomen, das zu Beginn des Lebens auftritt, und zwar insbesondere im Zusammenhang mit Separation und Individuation.

III. GESCHICHTE DER WEITEREN ENTWICKLUNG: BRITISCHE OBJEKTBEZIEHUNGSTHEORIE

Weiter ließ sich das Konzept der Objektbeziehungen unter dem strukturellen Blickwinkel der zweiten Topik nicht entwickeln. Freud betrachtete die Triebstrebung weiterhin einen Abkömmling der Triebspannung und war der Ansicht, dass sich die Triebstrebungen erst in zweiter Linie auf Objekte richten – nämlich wenn sich Objekte zur Verfügung stellen und sich bei der als lustvoll erlebten Spannungsreduzierung bewähren. Die Entwicklung der Objektbeziehungstheorie erforderte eine mehr oder weniger weit reichende Revision der Freud’schen Triebtheorie. Manche Autoren vertreten die Auffassung, dass der Begriff „Objektbeziehungsschule“ eine bestimmte Gruppe von Analytikern bezeichne, die sich der sog. Unabhängigen Tradition zurechnen. Zu den prominentesten unter ihnen zählen Fairbairn, Winnicott und Michael Balint (vgl. Kohohn 1986; Hinshelwood 1989; Spillius et al., 2011).

404

Made with FlippingBook - Online magazine maker