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Das ererbte Potential oder die primäre Kreativität des unreifen Säuglings kann sich zu einer Einheit entwickeln (Winnicott 1960, S. 44), d.h. zu einer ganzen Person, die interpersonale Beziehungen zu unterhalten vermag –, sofern die Mutter den jeweiligen Beziehungsbedürfnissen des Kindes während der verschiedenen Entwicklungsphasen, die es durchläuft, gerecht zu werden vermag. Die primitive Beziehung zwischen Mutter und Säugling wird weder als „ein Abkömmling des Trieberlebens verstanden noch als Objektbeziehung, die aus dem Trieberleben hervorgeht“ (Winnicott 1952, S. 98). Vielmehr ist die mütterliche Fürsorge von der Befriedigung der Triebbedürfnisse unabhängig. Es ist die Umwelt, die der Möglichkeit Raum gibt, Triebe zu erleben, oder die den Säugling befähigt, den Trieb für sich zu nutzen: „Nicht die Triebbefriedigung veranlasst den Säugling zu sein […]. Damit das Selbst vom Trieb Gebrauch machen kann, muss es zunächst einmal vorhanden sein“ (Winnicott 1967, S. 116). Winnicott postuliert ein anfängliches Omnipotenzerleben, in dem sich die Potentialität als Illusion realisiert. Sofern die Anpassung der Mutter „hinreichend gut“ ist, schafft sie „eine Gelegenheit für die Illusion, dass ihre Brust zum Säugling selbst gehört […] dass es eine äußere Realität gibt, die der Fähigkeit des Säuglings, etwas zu erschaffen, entspricht […]. Die Brust wird vom Säugling ein ums andere Mal erschaffen, und zwar aus seiner Fähigkeit zu lieben oder (wie man auch sagen kann) aus seiner Bedürftigkeit heraus“(Winnicott 1951, S. 12-14). Die in der Illusion verkörperte Entsprechung oder Überlappung (vgl. Milner 1952; 1977) – das Gefühl des Säuglings, dass das, was er erschafft, tatsächlich existiert (als ein „subjektives Objekt“ im Unterschied zu einem objektiv wahrgenommenen Objekt) – erhält die lebensnotwendige Kontinuität des Seins aufrecht und konstituiert den Erfahrungsbereich, dem die „Übergangsobjekte“ und „Übergangsphänomene“ angehören. Die Illusion ist Teil eines emotionalen Prozesses, der ihren allmählichen Rückzug mit einschließt; daher der einheitliche Prozess von Illusion und Desillusionierung. Die erhöhte Responsivität („primäre Mütterlichkeit“), mit der die Mutter anfangs auf den Wunsch-zu-Sein eingeht, weicht nach und nach einer unzulänglichen Anpassung, die wiederum die Voraussetzung für die Weiterentwicklung darstellt. Mangelnde Anpassung ist in dieser Phase nicht gleichbedeutend mit mangelnder Zuverlässigkeit, sondern ist Ausdruck der hinreichend guten, fehlbaren Mutter, die den Prozess der Desillusionierung unterhält, indem sie dem Baby die Objektwelt in kleinen, handhabbaren Portionen präsentiert. Dieser Prozess ermöglicht es, dass sich die Objektwelt aus dem emergierenden Selbstgefühl des Säuglings herauslösen kann: „Von einem Zustand der Verschmelzung mit der Mutter gelangt das Baby in eine Phase, in der es die Mutter aus dem Selbst herauslöst und in der die Mutter den Grad ihrer Anpassung an die Bedürfnisse des Babys senkt“ (Winnicott 1971, S. 126). 2. Ebenso wie Michael Balint behandelte Winnicott die therapeutischen Aspekte der Regression im Kontext einer revidierten objektbeziehungstheoretischen Psychopathologie. Er betonte, dass Babys krank werden, und betrachtete psychische
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