Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Es war Winnicott wichtig zu betonen, dass er seine analytische Arbeit auf seine Diagnose stützte und dass diagnostische Kriterien es ermöglichen, klinisch zwischen Patienten, die im Laufe der Behandlung in ihrer Übertragungsbeziehung regredieren, und Patienten zu unterscheiden, die regrediert sind (Borderline- und schizoide Patienten) und im analytischen Setting eine haltende Umwelt brauchen. Für diese letztgenannten Personen kann das „Management“ buchstäblich „alles“ (Winnicott 1954, S. 279) sein: „Ein sehr kranker Mensch wird kaum noch auf eine neue Gelegenheit hoffen. Im Extremfall muss der Analytiker den Patienten aufsuchen und ihm aktiv eine gute Bemutterung zur Verfügung stellen – eine Erfahrung, mit der ein solcher Patienten nicht rechnen konnte“ (ebd., S. 281f.). Wenn die Unzulänglichkeiten der frühen Umwelt nicht völlig desaströs waren, behandelt Winnicott die Regression als eine unbewusste Überzeugung, die zu einer bewussten Hoffnung werden kann, „dass bestimmte Umweltaspekte, die ursprünglich abträglich waren, erneut erlebt werden können, wobei die Umwelt diesmal ihre Funktion, die angeborene Entwicklungs- und Reifungstendenz des Individuums zu unterstützen, erfüllt, statt in ihr zu versagen“ (Winnicott 1959, S. 128). Damit dies gelingen kann, muss das Vertrauen in die neue Erfahrung auf authentische Weise gerechtfertigt werden – das heißt, in einem Setting, das die „adäquate Anpassung vornimmt“ (Winnicott 1954, S. 281). Was der Analytiker tut und wie er sich verhält, ist hier nicht weniger wichtig als die durch Deutungen erfolgende Kommunikation mit dem Patienten in der Übertragung. Klinische Regression bedeutet organisierte Regression. Dabei geht der Analytiker auf des Patienten Bedürfnis nach einem inneren wie auch äußeren Setting ein. Das bedeutet, er stellt einen lebendigen oder potentiellen Raum zur Verfügung, in dem Patienten neue Möglichkeiten entdecken können, sich selbst wiederzufinden. Deshalb spricht Winnicott von der „Regression auf der Suche nach dem wahren Selbst“ (ebd., S. 280). Zusammen mit Guntrip (1961, 1968) wird Winnicott (1954, 1960) im allgemeinen als derjenige betrachtet, der die ausschlaggebende Bedeutung eines Versagens des Mutterobjekts („Umweltdefizit“) in der frühen Ätiologie der pathologischen Entwicklung betonte, die schließlich in die Konstellation des falschen Selbst einmünden kann: eines im Gegensatz zum wahren Selbst, das die bewusste und die unbewusste innere Welt des Individuums integriert, oberflächlichen, nach außen orientierten und von Grund auf inauthentischen Selbst. Winnicotts Abhandlungen über den Wert der Aggression für die Entwicklung (1951) und über den Gebrauch des Objekts (1969) sowie seine Theorie der Übergangsobjekte und Übergangsphänomene (1953 1965) oder der Übertragung und Gegenübertragung (1949) etc. haben in entwicklungspsychologischen Studien, in der klinischen Theorie und Technik, aber auch in der interdisziplinären Erforschung der Kreativität und Kunst breite Anwendung gefunden.

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