Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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V. Ab. Margaret Mahler Die einflussreichste Erweiterung des Triebmodells und seine Bereicherung durch neue Dimensionen der psychischen Entwicklung stammten, vom Werk Hartmanns abgesehen, von Margaret Mahler. Ihr Interesse an den frühesten Objektbeziehungen des Kindes erwachte, als sie über schwere Psychopathologien im Kindesalter – Autismus und symbiotische Psychose – forschte und eine extreme Unfähigkeit beobachtete, eine dem Gedeihen zuträgliche Beziehung zu Betreuungspersonen aufzunehmen (Mahler, Ross und DeFries 1949; Mahler 1952; Mahler und Gosliner 1955). Vor diesem Hintergrund arbeitete sie eine Theorie der normalen Kinderentwicklung aus, der zufolge sowohl Objektbeziehungen als auch das Selbst aus den Triebschicksalen hervorgehen. So schrieb Hartmann: „Das Problem der ‚Anpassung‘ wird in ihrem Werk speziell als ein Sich-Arrangieren mit der menschlichen Umwelt konzipiert“ (zit. nach Greenberg und Mitchell 1983, S. 272). Mahler sah nicht die Herstellung des Genitalprimats im Anschluss an eine erfolgreiche Bewältigung des Ödipuskomplexes als Kennzeichen der erfolgreichen Entwicklung an, sondern den Entwicklungsprozess, der von der Einbettung in eine symbiotische Mutter-Kind-Beziehung zum Erwerb einer stabilen individuellen Identität in einer Welt berechenbarer und realistisch wahrgenommener anderer Menschen führt. Diesen Prozess bezeichnete Mahler als „Separation-Individuation“ oder auch als „psychische Geburt“ des Kindes. Separation und Individuation sind je distinkte Entwicklungsprozesse, die sich aber komplementär zueinander verhalten. Als Separation oder Loslösung definierte Mahler das Auftauchen des Kindes aus einer symbiotischen Fusion mit der Mutter, als Individuation jene Entwicklungserrungenschaften, die ihm den Erwerb seiner eigenen, individuellen Charakteristika ermöglichen (Mahler et al. 1978 [1975], S. 13f.). Obgleich Mahlers Organisationsprinzipien auf den Beziehungen zwischen dem Selbst und seinen Objekten beruhten und die Transaktionsaspekte von Wachstum und Entwicklung betonten, leiteten sie sich aus der klassischen Triebtheorie her. In Mahlers Augen ist das Kind weniger jemand, der mit widersprüchlichen Triebstrebungen kämpft, als vielmehr jemand, der kontinuierlich die Sehnsucht nach eigenständiger, autonomer Existenz mit dem gleichermaßen starken Drang, sich in die ursprüngliche symbiotische Verschmelzung zurückfallen zu lassen, vereinbaren muss. Die Entwicklung durchläuft Mahlers Theorie zufolge mehrere spezifische Subphasen. Die allererste ist die eines „normalen Autismus“, auf die dann eine Phase der Symbiose folgt; vier weitere Subphasen des Separations-Individuationsprozesses schließen sich an (siehe Mahler et al. 1978 [1975]). Es ist wichtig festzuhalten, dass Mahler das Konzept der normalen autistischen Phase, die sich gemäß ihrer ursprünglichen Annahme über die ersten beiden Lebensmonate erstreckte und auf einem primären Narzissmus und einer Reizschranke beruhte, verwarf, als sie erkannte, dass Babys von Geburt an ein Gewahrsein ihrer Umwelt und der Objekte, die sie umgeben, zu erkennen geben. Blum (2004b) schlug ihr deshalb vor, die sogenannte Reizschranke als einen „Stimulusfilter“ zu konzipieren.

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