Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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In der Phase der Symbiose nimmt der Säugling, so Mahler, seine Objekte lediglich verschwommen war, denn er befindet sich etwa vom zweiten Monat an im Zustand einer „wahnhaften somato-psychischen“ Verschmelzung (Mahler et al. 1978 [1975], S. 62f.). Mahler betrachtete dies als einen Zustand der Bezogenheit, der sich in einem intrapsychischen Kontext ohne Grenzen zwischen dem Selbst und der Anderen entwickelt (Fonagy, 2001). Von entscheidender Bedeutung ist in dieser Phase die Affektspiegelung. Die abgestimmte Mutter unterhält durch Blickkontakt, Mimik, Berührung, Halten usw. einen angemessenen affektomotorischen Dialog mit dem Säugling und trägt auf diese Weise zur Integration der Affektmodulation und – regulation des Kindes bei (Blum, 2004). Die Phase der Separation-Individuation besteht aus mehreren Subphasen. Sie beginnt im Alter von 4 bis 5 Monaten und endet mit etwa 18 Monaten. Die erste Phase bezeichnete Mahler als das „Ausschlüpfen“, das heißt, das Kind beginnt, die Repräsentation seines Selbst von seiner Mutterrepräsentation zu differenzieren (Mahler et al. 1978 [1975], S. 63), indem es nicht länger mit dem Körper der Mutter zu verschmelzen versucht, sondern aktiv und selbstbestimmt zu explorieren beginnt. „Mehr als alle anderen psychoanalytischen Theorietiker erkannte Mahler die Bedeutsamkeit des Laufens an, einer Entwicklungserrungenschaft, mit der im Prozess der Separation-Individuation die Subphase des Übens beginnt“ (Blum, 2004b, S. 542). Während dieser zweiten Subphase übt sich das Kind in der Fortbewegung, um seine körperliche Getrenntheit von der Mutter zu vergrößern und den Differenzierungsprozess im buchstäblichen Sinn fortzusetzen. Dies ist die Phase, in die Mahler die eigentliche „psychische Geburt“ des Kindes datiert. Mit dem aufrechten Gang erweitert sich sein Horizont, und das Kind hat das Gefühl, dass ihm die Welt zu Füßen liegt. Greenacre (1957) bezeichnete diese Zeit als den Höhepunkt der kindlichen „Liebesaffäre mit der Welt“. Gemäß Mahlers Konzeptualisierung ist sie der Höhepunkt sowohl des (sekundären) Narzissmus als auch der Objektliebe (Mahler et al. 1978 [1975]). Im selben Zeitraum erreicht das Kind auch „den Gipfel seiner ‚magischen Omnipotenz‘, die es aus dem Gefühl ableitet, daß es Anteil an den magischen Kräften seiner Mutter hat“ (Fonagy 2003 [2001], S. 75). Die Subphase der Wiederannäherung beginnt im 15. bis 18. Lebensmonat und dauert bis etwa zur Vollendung des zweiten Lebensjahres. Das Kind entwickelt ein geschärftes Gewahrsein der Getrenntheit; damit tauchen die Trennungsangst und ein verstärktes Bedürfnis auf, bei der Mutter zu sein (Mahler et al. 1978 [1975). Das Kind, das zuvor immer selbständiger wurde, realisiert nach und nach, dass es ein winzig kleiner Fisch in einem sehr großen Meer ist. Ihm geht sein ideales Selbstgefühl verloren und es beginnt, sich vor Trennungen von der Mutter zu fürchten. Es begreift, dass die Mutter in Wirklichkeit von ihm selbst getrennt ist und ihm nicht unausgesetzt zur Verfügung steht. Dies löst die „Krise der Wiederannäherung“ aus, die etwa vom 18. bis zum 24. Lebensmonat dauert. Die affektive Einstellung des Kindes ist laut Mahler ambivalent; einerseits will es sich an die Mutter klammern, andererseits empfindet es ein starkes Bedürfnis nach Getrenntheit. Mithin erreichen Spaltungsvorgänge in dieser Phase einen Höhepunkt (Greenberg und Mitchell 1983). Zugleich vollzieht sich eine

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