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neurobiologischen Aspekten der Entwicklung verbindet. Seine allgemeine Schlussfolgerung betrifft die parallele Entwicklung und wechselseitige Beeinflussung neurobiologischer affektiver und kognitiver Systeme, die letztlich durch genetische Determinanten gesteuert werden, sowie psychodynamischer Systeme, die sowohl der Realität als auch motivierten Verzerrungen der inneren und äußeren Beziehungen zu wichtigen anderen Menschen entsprechen. Dieses Modell integriert die relevanten Bereiche der neurobiologischen Entwicklung, nämlich die Aktivierung der Affektsysteme, die Differenzierung des Selbst von Anderen, die Entwicklung einer Theorie des Geistes und der Empathie, die Herausbildung der Selbststruktur und die Entwicklung der Mentalisierungsprozesse im Kontext der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie (Kernberg 2004, 2013a, 2014, 2015). Mit seiner Zusammenführung der neurobiologischen und der psychoanalytischen Entwicklungsforschung wirft Kernberg (2015) Licht auf die dynamische Komplexität der ersten Lebenswochen und –monate. Schon in der „symbiotischen Phase“ der „wahnhaften somato-psychischen“ Verschmelzung (Mahler et al. 1978 [1975], S. 62f.), die keine Grenzen zwischen dem Selbst und der Anderen kennt und in der das Baby und seine Mutter eine operative Einheit bilden, tauchen nicht nur die wesentlichen primären Affekte auf, sondern auch ein Streben nach Differenzierung – die Voraussetzung für den Erwerb der Theorie des Geistes – und die ersten Spuren der Empathie. Während der ersten 6 bis 8 Wochen des Lebens reagieren Säuglinge unterschiedlich auf menschliche Gesichter und unbelebte Muster; sie können die Stimme ihrer Mutter von anderen Stimmen unterscheiden und auf „Nicht-Ich“- Interaktionserfahrungen mit einem Lächeln reagieren; zudem besitzen sie die Fähigkeit zum multimodalen Transfer, das heißt, sie können z.B. einen bestimmten Gegenstand, den sie zuvor im Mund gehalten haben, visuell wiedererkennen (Gergely & Unoka 2011; Roth 2009). Diese frühen Hinweise auf die Fähigkeit, Erfahrungen, die aus dem Selbst hervorgehen, von äußeren Wahrnehmungen zu unterscheiden, entwickeln sich in den ersten Monaten der „symbiotischen“ Phase in rasantem Tempo. Auch die Empathiefähigkeit taucht bereits in den ersten Lebenswochen auf. Zu beobachten ist schon in den ersten zwei Wochen eine neurobiologisch durch verschiedene Hirnfunktionen vermittelte emotionale „Ansteckung“, für die möglicherweise ein altes phylogenetisches subkortikales System zuständig ist. Darüber hinaus könnte die „Gatingfunktion“ eine Rolle spielen. Sie sorgt dafür, dass affiliative Affekte, die mit Bindung und erotischer Stimulation zusammenhängen, die Aufmerksamkeit für den Anderen schärfen. Auf die Empathie wiederum üben die Spiegelneuronensysteme einen starken Einfluss aus. Ein allgemeines „kognitiv-emotionales Wiedererkennungssystem“ wird zunächst durch das primordiale kortikale System und später durch weit verteilte Spiegelfunktionen vermittelt, für welche die Insula sowie durch der parietale und der temporale Kortex zuständig sind (Bråten 2011; Richter 2012; Roth und Dicke 2006; Zikles 2006; Kernberg 2015). Anfangs sind in erster Linie Strukturen mit affektiver Aktivierung beteiligt, also der Hirnstamm und die limbischen Schaltkreise; nach und
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