Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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nach werden dann kognitive Aktivierungsstrukturen wie etwa der orbitofrontale Kortex maßgeblich mit einbezogen. Offenbar sprechen diese neuen neurologischen Entdeckungen für das Postulat einer nicht-linearen Dialektik simultaner, schon in der frühesten Entwicklung aktiver Strebungen nach symbiotischer (dualer) Einheit wie auch nach Differenzierung des Selbst von der Anderen . Autoren wie Stern (1985) oder Blum (2004b), die die Selbst-Objekt-Differenzierung früher als Mahler ansetzten, werden ebenfalls bestätigt, wenngleich eine uranfängliche Differenzierung sogar noch früher als von ihnen angenommen aufzutauchen scheint. Inwieweit diese Entwicklung theoretisch als eine neuroentwicklungsphysiologische Grundlage der gegenläufigen Bewegungen zu verstehen ist, die man in der klinischen Situation mit erwachsenen Patienten beobachten kann, die einerseits nach Wiedervereinigung und Verschmelzung mit Objekten streben und andererseits nach innerer Separation, ist eine umstrittene Frage, die sich als spannender und fruchtbarer Bereich der künftigen multidisziplinären Forschung erweisen könnte. Kernbergs Version der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie trägt zwei basalen Ebenen der Persönlichkeitsorganisation (borderline und neurotisch) Rechnung und impliziert zwei grundlegende Entwicklungsebenen: Unter dem Einfluss intensiver Affektzustände baut sich in den präverbalen Lebensjahren eine duale psychische Struktur auf. Sie besteht einerseits aus Repräsentationen des Selbst, die mit einem idealisierten Objekt zusammenhängen und sich unter der Vorherrschaft sehr positiver (affiliativer) Affektzustände herausbilden (Säugling und Mutter); andererseits entwickelt sich unter der Vorherrschaft starker negativer (aversiver, schmerzhafter) Affekte ein Set dyadischer Beziehungen, das aus Repräsentationen eines frustrierenden oder aggressiven Objekts mitsamt den Repräsentationen eines frustrierten, wütenden und/oder leidenden Selbst besteht (Kernberg 2004). Aus der separaten Internalisierung aller guten und aller bösen Objektbeziehungen baut sich eine intrapsychische Struktur auf, die durch primitive Dissoziations- oder Spaltungsmechanismen sowie durch die davon abgeleiteten Mechanismen der projektiven Identifizierung, primitiven Idealisierung und Entwertung, durch Omnipotenz, omnipotente Kontrolle und durch Verleugnung charakterisiert ist. Einhergehend mit dem Aufbau dieser Strukturen vollzieht sich bei niedriger Affektintensität die frühe kognitive Entwicklung. Angetrieben wird sie durch unspezifische, instinktive „Seeking“-Impulse, einen Drang, die Realität kennenzulernen (Wright und Panksepp 2014). Dies führt – parallel zu der emotionalen Erfahrung hochintensiver, innerlich durch Spaltungs- und Dissoziationsmechanismen regulierter Affektzustände - zur frühen Konzeptbildung und zum Verständnis der belebten und unbelebten äußeren Umwelt. In dieser frühen Situation existiert vermutlich weder ein integriertes Selbstgefühl noch eine integrierte Auffassung anderer Personen. Die Repräsentationen des Selbst und Anderer werden je nach dem mit ihnen assoziierten hochintensiven Affektzustand in idealisierte und/oder verfolgende Partialselbst-Partialobjekt- Repräsentationen gespalten und/oder dissoziiert. Diese Entwicklung entspricht in etwa

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