Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Unter diesem Winnicott’schen Blickwinkel betrachtet, ist der Trieb nicht „angeboren“, sondern wird in der Beziehung zur Anderen „konstruiert“. Eine weitere Erkenntnis Winnicotts über die Rolle des Objekts wurde von Green (1975, 1985, 2005, 2007, 2011) weiterverfolgt, nämlich die Qualität der von der äußeren Betreuungsperson zur Verfügung gestellten psychischen Präsenz. Sowohl eine allzu starke als auch eine zu schwache Stimulation sind für das keimende Ich überwältigend und schmälern das Transformationspotential des Nebenmenschen. Green erläuterte, dass die von Winnicott (1958) beschriebene „Fähigkeit, in Gegenwart des Anderen allein zu sein“, die Fähigkeit der hinreichend guten Mutter voraussetzt, eine optimale Distanz zu wahren, das heißt, optimal abwesend zu sein. Diese Abwesenheit ist laut Green (1975 [1975]) kein Verlust, sondern eine „potentielle Anwesenheit, Bedingung der Möglichkeit nicht nur der Übergangsobjekte, sondern auch der für die Gedankenbildung notwendigen potentiellen Objekte“ (S. 534). Mit dieser Lesart Winnicotts gelingt Green eine kreative Erweiterung der zweifachen lacanianischen Einsicht in die Rolle, die die „Abwesenheit“ im psychischen Leben spielt: Sprache beruht auf der Fähigkeit, ein abwesendes Objekt zu repräsentieren und/oder sich selbst von seiner konkreten Präsenz zu abstrahieren und illustriert so den Unterschied zwischen der phantasmatischen Fülle des Imaginären und der triadischen Kastration der symbolischen Ordnung. Green (2007) prägte schließlich den Begriff „Objektalisierung“ zur Bezeichnung der Fähigkeit, „in einer vom Spiel bevölkerten Einsamkeit“ Objekte einer neuen Kategorie zu erschaffen, und zwar durch die libidinöse Besetzung von Elementen der Außenwelt und im Übergangsraum der Kultur und der Ideen. Er verlieh der Abwesenheit als dem Kern der psychischen Struktur ein noch höheres Gewicht (Green 1999) und entwickelte so das Konzept der „Arbeit des Negativen“, um zu beschreiben, auf welch mannigfaltige Weise das Ich sich vor Disruptionen zu schützen versucht. Hierbei handelt es sich um Beispiele für qualitativ unterschiedliche psychische Prozesse, die sich in dem Maß, in dem das Subjekt imstande ist, das Objekt in seinem Inneren zu „absentifizieren“ - das heißt, es zu symbolisieren statt auf seine konkrete Präsenz oder einen Objektersatz angewiesen zu sein -, unterscheiden. Es geht hierbei also nicht um eine Einverleibung des Objekts, sondern um die Erschaffung einer „Abwesenheit“ im Innersten des Selbst (Pontalis 1988). Green bezeichnet dies als eine „strukturierende Leere“ und vergleicht sie mit dem Raum innerhalb einer Vase. Mithin ist die Funktion des Objekts eine paradoxe: Es soll stimulieren und den Trieb wecken, ihn aber auch gleichzeitig kontrollieren. Ein Objekt, das allzu früh fehlt oder sich intrusiv verhält, setzt das Subjekt einer unerträglichen Situation des „Zuviel“ aus. Unzulängliche mütterliche Versorgung erhöht die Triebspannung, statt sie erträglich zu machen. Das Baby wird von der Triebspannung überwältigt, und statt die allmähliche Entfaltung seines Repräsentationspotentials zu unterstützen, verhindert ein Zuviel an „Präsenz“ des Objekts ebendiese Entwicklung. Laplanches ehrgeizige Formulierung „neuer Grundlagen für die Psychoanalyse“ (Laplanche 2011 [1987]) stellt die Beziehung zwischen Objekt und Trieb auf andere Weise dar. Ebenso wie Green übte auch Laplanche vor allem auf die

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