Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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französischsprachigen Analytiker in Quebec großen Einfluss aus. Er kritisierte den „ptolomäischen“ Freud’schen Blickwinkel, der die individuelle Psyche ins Zentrum des Schicksals des Subjekts rückt (Laplanche 1993, 1999), und behauptete, dass die grundlegende „anthropologische Situation“ der frühen Kindheit aufgrund der „Priorität“ der „Anderen“ vollkommen dezentriert sei, so dass der kleine Mensch gewissermaßen „kopernikanische“ Kreise um die Erwachsene ziehe. Die von Laplanche wegen ihrer erheblichen Konsequenzen für die psychische Struktur des Kindes betonte drastische Asymmetrie zwischen der Erwachsenen und dem Säugling besteht darin, dass die Erwachsene ein sexuelles und sprechendes Wesen mit einem Unbewussten ist, das Baby aber weder sexuell ist noch sprechen kann und auch noch nicht über die innere Ausbildung voneinander getrennter Instanzen verfügt. Dass der intime Kontakt mit dem Körper des Babys die unbewusste infantile Sexualität der erwachsenen Bezugsperson aktiviert, wird dieser kaum bewusst. Die unbewusste Sexualität „kontaminiert“ den intimen Austausch mit dem Säugling in Form „rätselvoller Botschaften“, die das Baby weder kognitiv noch emotional oder korporeal zu dekodieren vermag und die in ihm den Trieb und die unbewusste Phantasie in Form eines inneren „Drängens auf Übersetzung“ erzeugen. Diese ihrem Wesen nach rätselvolle Sexualität ist nicht angeboren, sondern wird dem Kind von der realen Anderen implantiert, obgleich die Realität, auf die es ankommt, in einer außerordentlich entscheidenden Modifizierung Lacans die Realität der „Botschaft“ ist, eine dritte Realität, die Laplanche der psychischen und der äußeren Realität Freuds hinzufügt. Laplanche zufolge stammt die menschliche Sexualität – worunter er die eine Phantasie vermittelte Sexualität versteht – von der Anderen und ist das Andere (dem Ich fremd). Ein weiterer Autor, der intensiv über den Beitrag der realen, individuellen Bezugsperson zur Transformation des psychischen Apparates nachgedacht hat, ist Reid (2009a, 2008b, 2010, 2015). Er und andere, etwa Cesar und Sara Botella (Botella und Botella 2004, 2007), Brusset (1988, 2005b, 2006, 2013) und Seulin (2015), vertreten nicht nur die Ansicht, dass Freuds Entdeckung des primärprozesshaften Denkens einen unbewussten halluzinatorischen Modus des psychischen Funktionierens, der den infantilen Zustand der menschlichen Psyche beherrscht, zutage gefördert hat. Sie behaupten darüber hinaus, dass die Installation des Lustprinzips im Herzen des psychischen Apparates keine Gegebenheit ist, sondern als Resultat der Lust zustande kommt, die das Baby und seine Umwelt im Zusammenhang mit der Bedürfnisbefriedigung miteinander teilen. Der in der Traumdeutung beschriebene psychische Apparat vermag zwischen Repräsentation und Wahrnehmung ebenso zu unterscheiden wie zwischen Wunsch und äußerem Faktum. 1897 hingegen hatte Freud in Bezug auf das Unbewusste geschrieben, dass ein affektiv besetzter Wunsch von einer Wahrnehmung praktisch nicht zu unterscheiden sei. Mithin operiert das Unbewusste ständig in einem potentiell traumatischen Modus, in dem Gedanken unverzüglich als Aktion aufgefasst werden. Die Transformation oder, präziser, die Hinzufügung einer zweiten, kognitiven Funktionsweise, die hemmend auf die erste einwirkt – der von Freud so genannte Sekundärvorgang -, setzt eine geglückte, wohlwollende Intervention des Objekts voraus. Unzulängliches Halten, misslingende Reverie und verunglückte

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