Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Netzwerk der Beziehungen im Feld konstituiert ein solches System. Es war der hochangesehene Physiker und Philosoph Ernst Mach , der die Anwendbarkeit dieser Feldbeschreibung auf Wahrnehmungsphänomene erkannt hat. Mach (1886) beobachtete nämlich, dass sich Empfindungen zu Gestalten, zu zeitlichen und räumlichen Mustern, organisieren, die von den Empfindungen an sich unabhängig sind. So bleibt zum Beispiel eine Melodie in unterschiedlichen Tonarten wiedererkennbar, obwohl ihre einzelnen Töne, in unterschiedlichen Tonarten gespielt, nicht dieselben sind. Nicht die Töne als solche, sondern die Beziehung zwischen ihnen konstituiert das Wesen der Melodie. In ähnlicher Weise bleibt die Gestaltqualität von Objekten erhalten, selbst wenn sich die Empfindungen der Objekte verändern. Eine Münze sieht weiterhin rund aus, ganz gleich, unter welchem Blickwinkel wir sie betrachten, sie behält dieselben Eigenschaften auch bei wechselnder Lichtintensität usw. Mach behauptete, die Komplexität der Wahrnehmung lasse sich nicht allein auf ihre einzelnen Elemente reduzieren. Die Empfindungen an sich können nie Bedeutung besitzen; Wahrnehmung ist nicht lediglich Wahrnehmung „roher“ Sinnesdaten, sondern ist auch Wahrnehmung von Beziehungen. Mach verstand nicht nur menschliches Gewahrsein, sondern alle Naturphänomene als dynamische Prozesse und nicht als bloße Kausalketten. Er entwickelte seine Ideen im Zuge seiner physikalischen und physiologischen Forschung (Mach & McCormack 1906) und erlangte durch seine breitgefächerten Untersuchungen der Dynamik Berühmtheit. Zum Beispiel besagt das „Mach’sche Prinzip“, dass die Trägheit eines Körpers durch seine Beziehung zu jedem anderen Körper in einem System bestimmt wird. Im selben Zeitraum beeinflusste Franz Brentano (1973 [1875]), dessen Vorlesungen auch Freud hörte, eine Generation von Denkern durch seine Aktpsychologie, welche die Aktivität des Bewusstseins, d.h. nicht die Inhalte, auf die das Bewusstsein sich richtet, untersucht. Unter seinem Blickwinkel unterscheidet man die psychische Aktivität, zum Beispiel das Hören eines Tones, vom nicht-psychischen Inhalt des gehörten Tones und fokussiert auf die Intentionalität oder Gerichtetheit des Bewusstseins. Brentanos Schüler, insbesondere Christian von Ehrenfels, Carl Stumpf und Edmund Husserl , verbanden die Aktpsychologie mit Machs Arbeiten zur Dynamik. Vor allem von Ehrenfels entwickelte Machs Konzept der „Gestaltqualitäten“ weiter und beschrieb, dass die Gestalt in der Wahrnehmung automatisch gegeben ist und sich nicht erst als kausales Resultat sensorischer Kombinationen (= Assozianismus) ergibt (B. Smith 1995). Stumpf und Husserl entwickelten jeweils ein System der „Phänomenologie“, in dessen Zentrum die Intention der ersten Person steht. Insbesondere Husserl stellte das dualistische Denken, das einen Großteil der kontinentalen Philosophie beeinflusst hatte, radikal infrage. Die Unterscheidung zwischen Intentionalität und anderen wissenschaftlichen Erklärungen geht auf eine Differenzierung zwischen kausalen und teleologischen Erklärungen zurück, wie sie in der Philosophie der antiken Griechen diskutiert wurden; im 19. und 20. Jahrhundert wurde sie von Denkern wiederaufgegrifen, die in der Physik und in den Sozialwissenschaften zwischen positivistischen und deskriptiven Orientierungen

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