Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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unterschieden (zu Darlegungen dieser Denktraditionen siehe Dilthey 1883, Lewin 1935 und Wright 1971). Drei von Stumpfs Schülern ( Max Wertheimer, Kurt Koffka und Wolfgang Köhler ) nahmen Untersuchungen in Angriff, denen sie Stumpfs Behauptung zugrunde legten, dass das Ganze anders ist als die Summe seiner Teile . Auch wenn die Gestaltpsychologie mit Untersuchungen über die Wahrnehmungsorganisation ihren Anfang genommen hatte, entwickelten alle drei Denker zusammen mit ihren bekanntesten Schülern Kurt Lewin und Kurt Goldstein nach und nach allgemeine Prinzipien der Verhaltens- und Erfahrungsdynamik, die Anwendung fand auf Lernen, Kognition, Kreativität, Motivation, Gruppendynamik und andere soziale Phänomene. Durch die Integrationen der Gestaltprinzipien gewann das Konzept des Feldes herausragende Bedeutung in Bezug auf psychologische Prozesse. Die erste implizite Anwendung des Feldkonzepts erfolgte bei der Untersuchung visuell-perzeptueller Phänomene. Gestützt auf die Arbeit von Ehrenfels’ demonstrierte Wertheimer (1925), dass Wahrnehmung zu bedeutungshaltigen Ganzen organisiert wird, bevor die einzelnen Elemente, die das Ganze konstituieren, wahrgenommen werden. Darüber hinaus zeigte er, dass die Beschaffenheit des Ganzen oder der Gestalt durch die Beziehung seiner Teile zueinander sowie durch den Kontext der Gestalt determiniert wird. Das heißt, dass jede Figur einen Hintergrund oder ein Feld besitzt, dass also eine Figur nie isoliert, ohne Feld, existiert. Die Eigenschaften des Hintergrundes wiederum determinieren in bedeutungshaltigen Konfigurationen die Eigenschaften der Gestalt. Zudem werden Gestalten im Akt der Wahrnehmung, also nicht einfach auf der Ebene der Hirnaktivität, hervorgebracht. Sie sind das Resultat des komplexen Ganzen des Wahrnehmungsprozesses. Diese frühe Verwendung des Feldkonzepts, das Kontextualisierung und Interdependenz der Wahrnehmung betont, wurde auf alle Arten von Phänomenen verallgemeinert. Ein scheinbar einfacher motorischer Reflex zum Beispiel erfährt in unterschiedlichen Feldern entscheidende Veränderungen. Wenn sich ein Fuß beim Wandern in einer Wurzel verfängt, entspannen sich augenblicklich die Beugemuskeln, um einen Sturz zu verhindern. Wenn man aber einen steilen Abhang hinuntersteigt und ins Stolpern gerät, kontrahieren die Beugemuskel. Statt diese Reflexe als elementare Stimulus-Reaktion-Assoziationen zu verstehen, werden sie als holistische Reaktionen betrachtet, deren „Stimuli in unterschiedlichen Gesamtsituationen auftauchen oder, anders formuliert, für den Organismus unterschiedliche Bedeutungen haben“ (Goldstein 1939, S. 166). Jeder Reflex ereignet sich, auch wenn er immer auf ähnliche Weise ausgelöst wird, in einem jeweils anderen Feld als „Gesamtsituation“ (ebd.) und ist deshalb jeweils anders organisiert. Man könnte auch sagen, dass die spezifische Art des Sich-Einlassens auf und der Bedeutung von Erfahrung in Kontexten Gestalt annimmt. Das Konzept des Feldes wurde zu einem „Gestaltgesetz“ weiterentwickelt (Koffka 1935, S. 41), dessen Bedeutung er analog seiner Verwendung in der Physik extrapolierte. Seiner Ansicht nach leitet sich die Dynamik von Systemen jeder Art nicht von einzelnen, isolierten Objekten her, sondern von den „wechselseitigen Beziehungen

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