Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

der Faktoren in der konkreten Situation, d.h. letztlich, vom augenblicklichen Zustand des Individuums und der Struktur der psychologischen Situation“ (Lewin 1935, S. 41). Ebenso wie das elektromagnetische oder das Gravitationsfeld verstand man auch das psychologische Feld als ein dnamisches System von Kräften, die das Verhalten des Individuums innerhalb dieses Systems prägen (Koffka 1935, S. 42f.). „Kräfte“ im psychologischen Feld wurden unterschiedlich beschrieben als Bedürfnisse, Intentionen, Spannungen und auch Prädispositionen, die „Valenzen“ oder Richtungen im Feld vorgeben. Vor allem in Lewins Händen erwies sich die Feldtheorie als Möglichkeit, komplexe Systeme zu beschreiben, ohne auf kausale Ableitungen oder Reduktionen in Richtung Trieb oder aber Umwelt zurückgreifen zu müssen. Mit den Eigenschaften des Feldes, verstanden im Sinne der Gestalttheoretiker, wurden konkrete Ereignisse in unmittelbaren Situationen betont. Das Feld integriert das Individuum zu einem „mit anderen Systemen interdependenten System“ (Wertheimer (1925, S. 6), dessen Aktionen nur im Verhältnis zu anderen innerhalb des Systems betrachtet werden können. Ausgehend von seinen Ursprüngen in der Gestaltpsychologie, hat die Entwicklung des Feldkonzepts verschiedene Richtungen eingeschlagen. So entstand parallel zum Auftauchen eindeutig amerikanischer Themen eine weitere Entwicklung, die Einfluss auf die kontinentale Philosophie und Psychiatrie genommen hat. In Lateinamerika wird die Gestaltpsychologie, insbesondere das Werk Kurt Lewins, geschätzt, weil es dem „Lebensraum“ (der Umwelt) des Individuums und seiner Dynamik einen besonderen Stellenwert unter den Verhaltensdeterminanten einräumt. Als Gestaltpsychologe und Begründer der Sozialpsychologie lehnte Lewin den Assozianismus ab und betonte die Bedeutsamkeit der Wahrnehmung von Strukturen (Gestalten), die der Entdeckung neuer Dimensionen der Realität den Weg bahnen. Lateinamerikanische Theoretiker heben hervor, dass diese Dimension der Gestalttheorie ihrerseits Einfluss auf Maurice Merleau-Pontys (1945) Phänomenologie der Wahrnehmung ausgeübt hat, welche die dialektische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt beschreibt und dabei die Funktion der Beobachtung sowie Wahrnehmungsphänomene als Indikatoren der Realität betont. Lateinamerikanische Analytiker sehen hier einen Zusammenhang mit der von Heinrich Racker beschriebenen analytischen Haltung des teilnehmenden Beobachters. Lewin, Koffka und Wertheimer emigrierten in den 1930er Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg in die USA. Eine schicksalhafte Fügung führte Lewin allerdings zunächst nach England, wo er mit dem jungen Psychologen Eric Trist arbeitete, der sein Werk an der Tavistock Clinic bekannt machte (und später kurze Zeit bei Lewin an der Cornell studierte). Gemeinsam mit John Rickman und Wilfred Bion war Trist an der Gründung des Tavistock Institute beteiligt (Harrison 2000). Zu den Arbeiten, die sie während des Kriegs leisteten, gehörten die „Northfield Experiments“, die Entwicklung therapeutischer Gemeinschaften für traumatisierte Weltkriegsveteranen. Die dortige Gruppenarbeit fokussierte auf die von Bion (1959) konzipierten Grundannahmen im

526

Made with FlippingBook - Online magazine maker