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Harry Stack Sullivans interpersonales Feld ist in diesem reichen Kontext von Bedeutung. Sullivan versteht Feld nicht im Sinne eines psychoanalytischen Konzepts, sondern denkt an die tiefe Interdependenz der Individuen in einer interpersonalen Situation, in der die Person sozial ist und das Selbst in der Anschauung durch Andere gründet. Der Einfluss des Pragmatismus bewirkt, dass dieses Feld Beachtung findet und dass es dabei nicht um die Phantasien der Beteiligten geht, sondern um das, was Menschen miteinander tun (Levenson 1981). Dieser reiche intellektuelle Kontext hat Sullivans Formulierungen der Interdependenz als Feldkonzept zweifellos maßgeblich beeinflusst. Er war für sein Denken von fundamentaler Bedeutung und dient interpersonalen Psychoanalytikern als Grundlage, auf der sie den „relational turn“, zu dem wir später in diesem Eintrag kommen werden, in die Wege leiteten. Zwar spielte die Gestalttheorie während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ganz Europa eine herausragende Rolle, zentrale Bedeutung aber erlangte sie erst in der Arbeit eines zunehmend einflussreichen französischen Philosophen. Maurice Merleau-Ponty , ein enger Freund Jean Paul Sartres und Simone de Beauvoirs, lehrte zuerst an der Sorbonne und war dann von 1952 bis zu seinem vorzeitigen Tod im Jahr 1961 Professor für Philosophie am Collège de France. Er lernte die Gestaltpsychologie durch Aron Gurwitsch kennen, einen Schüler Stumpfs und Husserls, der nach Paris emigrierte, bevor er einem Ruf an die New School in New York folgte. Merleau-Ponty hat sich nie als Gestaltpsychologe verstanden (er war ein renommierter Vertreter der phänomenologischen Philosophie), machte sich das gestalttheoretische Denken aber in einer Philosophie des verkörperlichten Subjekts in der Welt zunutze. „Welt“ ist nach Husserl und seinem Schüler Heidegger die Lebenswelt, „le monde vécu“ (Merleau- Ponty 1945, S. 57), eine durch Wechselbeziehungen konstituierte, aber ambiguöse Struktur bedeutungshaltiger Bindungen. Gestaltphänomene dienen als Möglichkeit, die Beschaffenheit des Verhaltens, des Denkens und der Wahrnehmung zu untersuchen, wobei sich Wahrnehmung nicht nur auf einfache visuelle Phänomene bezieht, sondern auf den gesamten Bereich verkörperlichten Erlebens. Schon früh erläuterte Merleau-Ponty, dass die bekannteste Definition der Gestalt in Wirklichkeit eine Definition dessen sei, was eine Gestalt nicht ist: Die Gestalt ist nicht die Summe ihrer Teile. Merleau-Ponty (1933) formulierte daher eine positive Definition, mit der klar zu werden beginnt, wie das Feld zu Gestalten organisiert wird: „Die ‚Gestalt‘ ist eine spontane Organisation des sensorischen Feldes, die die vermeintlichen ‚Elemente‘ von ‚Ganzen‘ abhängig macht, die sich ihrerseits zu größeren Ganzen erweitern“ (S. 193). Gestalten sind Organisationen des Feldes, die als Elemente größerer Gestalten in größeren Feldern organisiert sind. Merleau-Ponty (1966 [1945]) formulierte eine Sichtweise, die von geschichteten Organisationen oder Strukturen ausgeht, die das „phänomenale Feld“ bilden (S. 35-37, passim). Er postulierte drei Typen oder Ordnungen des Feldes, die er der dualistischen Aufteilung zwischen Materie oder Körper ( res extensa ) und Geist ( res cogitans ) gegenüberstellte. Die physikalischen/vitalen/menschlichen Ordnungen, anderenorts als Umwelt/Mitwelt/Eigenwelt beschrieben, sind interdependente, interpenetrierende
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