Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Evolution, Darlegung und Nützlichkeit des Konzepts Der brasilianische Psychoanalytiker Fabio Herrmann hat seine Theorie multipler Felder in São Paulo seit Ende der 1960er Jahre als Kritik an einer mittlerweile weit verbreiteten klinischen Psychoanalyse entwickelt, die über Wiederholungen und kleinteilige Erörterungen der ewig gleichen Themen durch die dominierenden psychoanalytischen (freudianischen und kleinianisch-bionianischen) Schulen nicht hinausging. Die Theorie kann in diesem Kontext als ein Versuch angesehen werden, eine Krise theoretischer Art anzugehen, die durch die Inkommensurabilität psychoanalytischer Schulen, insbesondere derjenigen, die in der psychoanalytischen Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Ton angaben, gekennzeichnet war. Diese Krise war entstanden, weil jede der Hauptfiguren, die sich in den jeweiligen Schulen besonders hervortaten, an bestimmten Aspekten des freudianischen Projekts festhielt, die ihrer Ansicht nach die Psychoanalyse insgesamt repräsentierten. Für Herrmann bedeutete dies, dass die Geschichte der Psychoanalyse als ein Widerstand gegen die Psychoanalyse fungierte (Herrmann 2002). So erklärte er beispielsweise: „Bei Freud beschäftigte die Psychoanalyse sich mit einem ungleich größeren Bereich als der Therapie im Behandlungszimmer; danach hat sie sich innerhalb der psychoanalytischen Bewegung nicht mehr erweitert, sondern ist geschrumpft. Die psychoanalytische Theorie hingegen wurde an die individuelle Praxis angepasst, in eine individuelle Psychologie und Ausbildung transformiert, und hat sich selbst in doktrinäre, scholastische Systeme zerlegt. (…) Dieselben politischen Vereinbarungen, die die Zentren psychoanalytischer Macht determinierten, haben den zulässigen Anwendungsbereich der klinischen Arbeit und automatisch die Ebene ihrer Theoretisierung konventionalisiert, indem sie eine Standardklinik und Standardtheorie definiert haben. (…) Heute zwingt eine Krise der klinischen Praxis selbst die stursten Gruppen, den Anwendungsbereich der klinischen Arbeit zu erweitern, die sich – wenn auch irrigerweise – auf die Standardtheorien der existierenden Schulen oder auf eine vereinfachte Variante mit niedrigerer Frequenz stützt: in Wirklichkeit aber verlangt die erweiterte klinische Anwendung ein höheres Maß an Theoretisierung, nach ‚hoher Theorie‘, das heißt jener Region der Metapsychologie, die weiteren und weiter entwickelten psychoanalytischen Instrumenten der psychoanalytischen Methode zuträglich ist“ (Herrmann 2003a, S. 168). Ohne sich als eine neue psychoanalytische Schule zu verstehen, priorisiert dieses Denksystem die Rückgewinnung des heuristischen Wertes klinischer Arbeit, um psychoanalytisches Wissen zu formulieren. Es ist ein Versuch, die psychoanalytische Idee , wie Herrmann es ausdrückt, wiederzubeleben – Freuds Leistung, die Erforschung menschlicher Bedeutungen in die Wissenschaft seiner Zeit zu integrieren. Die Theorie multipler Felder ergab sich aus Herrmanns Überlegungen zu zwei Themen , die eng miteinander zusammenhängen: dem Unbewussten und der

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