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2. Gruppenorientierung vor individueller Abgrenzung; 3. Trennung zwischen privaten und öffentlichen, inneren und äußeren Beziehungen in Gedanken, Gefühlen und Verhalten; 4. Betonung der (durch äußere Verurteilung erzeugten) Schamgefühle sowie der Schuldgefühle (als Ausdruck innerer Verurteilung) 5. Konfliktvermeidung und hohe Wertschätzung der Harmonie; 6. auf einen nachsichtigen, responsiven und permissiven Erziehungsstil im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit folgen zunehmend strenge Zuschreibungen sozialer Rollen und Verhaltenskontrollen in den späteren Jahren. Die allgemein beobachtete Omnipräsenz vertikaler hierarchischer Strukturen in den meisten japanischen Beziehungen wird von Kulturanthropologen wie Ruth Benedict (1946) oder dem Historiker Edwin O. Reischauer (1977) bestätigt. Detaillierte Forschungen legte Chie Nakane (1970) vor, der außerhalb Japans bekannteste japanische Anthropologe. Die mit der hierarchischen Struktur zusammenhängenden und verflochtenen oben aufgeführten Eigenschaften sind das kulturelle und psychologische Echo eines 400-jährigen Feudalsystems mit starrer politischer und sozio-ökonomischer Schichtenbildung. Modernisierende westliche Einflüsse machten sich erstmals Ende des 19. Jahrhunderts bemerkbar und breiteten sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Kontext der neuen demokratischen Regierungsinstitutionen und zahlreicher gesellschaftlicher Veränderungen im politischen, ökonomischen und technologischen öffentlichen Leben immer schneller aus. Gleichwohl überdauern auch im heutigen japanischen Leben traditionelle kulturelle Werte und Besonderheiten als psychologische Unterströmungen. Reischauer (1977) hebt die Fähigkeit der Japaner hervor, sich Veränderungen anzupassen, und nimmt viele menschliche Gemeinsamkeiten zwischen Osten und Westen wahr. Dean C. Barnlund (1975) beschreibt amae in seinem kulturanalytischen Vergleich zwischen dem US- amerikanischen und dem japanischen Festhalten an gesellschaftlich vermittelten, zentralen und normativen kulturellen Werten als eine Repräsentation des “kulturellen Unbewussten”. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist eine Erziehungspraxis, die ständige körperliche Nähe, Nachsicht, Responsivität, sensible, empathische mütterliche Fürsorge und die Verfügbarkeit weiterer Bezugspersonen gewährleistet, für das Verständnis von amae entscheidend. Weil der Raum, der den Japanern als Inselbewohnern zur Verfügung steht, begrenzt ist, sind die Nähe zu anderen Menschen und die Notwendigkeit, Seite an Seite zu leben, eine Grundvoraussetzung des japanischen Lebens. Kinder lernen nicht nur ihre Großfamilie, sondern auch ihre Nachbarn und die umgebende Gemeinde schon sehr früh kennen. Jeder Erwachsene in der näheren Umgebung wird oji-san , Onkel, bzw. oba-san , Tante, genannt. Ältere
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