Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Unterscheidung zwischen „Geschehnissen“ und „Erfahrungen“ wurde von Winnicott in seinem Beitrag „The Fear of Breakdown“ (1974) erläutert. Der gefürchtete Zusammenbruch hat sich in der frühen Kindheit ereignet, ohne als eine Erfahrung erlebt zu werden. Von indirekter Relevanz ist hier auch Bions (1962) Theorie des Denkens: In der frühen Kindheit, in der Psyche und Soma noch ununterscheidbar sind, werden rohe Sinneseindrücke/Beta-Elemente im Körper gespeichert und auf körperlicher Ebene kontrolliert, bis sie mithilfe der containenden Alpha-Funktion der Mutter psychisch repräsentiert werden können. Mitrani zufolge können solche „ unmentalisierten Geschehnisse “ des empfundenen, aber nicht ausgehaltenen, nicht erduldeten Schmerzes, die auf einer sensorischen oder körperlichen Ebene bar jeder symbolischen Bedeutung gespeichert werden, zahlreichen Enactments in der Analyse zugrunde liegen. Das neurobiologische Verständnis der Rolle, die der Körper durch somatische Erinnerungen bei Enactments spielt, wurde u.a. von Van der Kolk und Van der Hart (1991) dargelegt. Ihre Diskussion reicht von den frühen, miteinander korrespondierenden neurobiologischen Überlegungen Janets und Freuds bis zu modernen Thesen über die somatische Enkodierung traumatischer Erinnerungen im Gehirn. In der relationalen Schule besitzt das Konzept des Enactments einen zentralen Stellenwert für die Theorie der Psyche und das Verständnis der therapeutischen Wirkung der klinischen Analyse. Relationale Theoretiker sind in den USA seit den 1980er Jahren aktiv. Einer von ihnen ist Anthony Bass, der den Ansatz wie folgt beschreibt: „Charakteristisch für moderne relationale Ansätze ist in hohem Maße […] ihre Betonung von Aspekten des gemeinsamen Beteiligtseins: Interaktion, Intersubjektivität und wechselseitige Beeinflussung infolge des komplementären, wechselseitig prägenden Zusammenwirkens von Übertragung und Gegenübertragung. Diese Phänomene können sich mit ihrem unerbittlichen Zugriff auf das Unbewusste als absolut überwältigend erweisen, wenn es um die Klärung von Enactments geht, die oft dem Räumen eines Minenfeldes gleicht […]“ (Bass 2003, S. 658) Irwin Hoffman (1994) beschreibt das dialektische Denken als Teil dieses Ansatzes und untersucht zum Beispiel die technischen Implikationen für die Autorität des Analytikers, für die Wechselseitigkeit und für die Authentizität der einzigartigen Fähigkeit des Patienten, unbewusst zu interagieren. Bromberg (1998, 2006) betrachtet die Psyche als eine Landschaft multipler, wechselnder Selbstzustände. Enactments in der Behandlungssituation gewähren Zugang zum Inhalt abgesonderter Selbstzustände, der vorher unzugänglich war. Laut Bromberg (2006), Bass (2003), Hoffman (1994) und Mitchell (1997) entspricht es der relationalen Tradition, dass der Analytiker seine eigenen wechselnden Selbstzustände auf Hinweise überprüft, die ihm Aufschluss über das, was im Patienten auftaucht, geben können.

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