Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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den Patienten als auch den Analytiker umfassenden Feldes wurde von Sullivan (1953) eingeführt. Sullivan arbeitete mit einer sozialpsychologischen Feldtheorie und betonte, dass jedes Individuum stets auch Teil seines sozialen Umfeldes ist. Er hat das Konzept der projektiven Identifizierung explizit nie benutzt, verstand den analytischen Prozess aber eindeutig als ein Zwei-Personen-Feld, in dem beide Mitglieder aufeinander einwirken. Edgar Levenson (1972, 1995, 2017) beschreibt eine radikale interpersonale Betrachtungsweise der analytischen Interaktion, indem er betont, dass das analytische Paar unteilbar und das zentrale Faktum einer Behandlung die strukturierte Interaktion ihrer Teilnehmer ist. In einer Analyse, so schreibt er, „lautet die Kardinalfrage für den Patienten womöglich nicht: ‚Was bedeutet das?‘, sondern: ‚Was geht hier vor?‘“ Levenson zufolge besteht jedwede Interaktion aus einem „unendlichen Regress“ aus bewussten wie auch unbewussten Botschaften und Metabotschaften, so dass „Bedeutung“ im herkömmlichen psychoanalytischen Sinn schwer greifbar ist. Maurice Apprey untersuchte die Implikationen der projektiven Identifizierungen, die sich aus der mütterlichen Konzeption ihres Babys in utero herleiten. In seiner Arbeit mit Risikomüttern beobachtete Apprey (1987), dass irrige mütterliche Vorstellungen über das Baby im dritten Trimester Trennungsängste wecken können, die zu gewaltsamen projektiven Identifizierungen führen, durch welche die Fähigkeit der Mutter, ihre Konzeption ihrer selbst als Mutter in eigenem Recht und ihre Konzeption des Babys als von ihr getrennte Person miteinander zu vereinbaren, zerstört wird. Für diese Mütter kann die physische Geburt des Babys den Verlust der eigenen Mutter repräsentieren und eine schwere Regression auslösen, die in eine postpartale Depression und Psychose mündet, in der die Selbst- und Objektrepräsentationen sich vermischen. Diese Konfusionen können drei Generationen überspannen, da verängstigte Hochrisikomütter u.U. das Gefühl haben: „Ich bin schwanger, kann es aber meiner Mutter nicht sagen, weil sie mich töten wird.“ Oder: „Ich werde sie töten.“ Wenn das Baby selbst als Container der gewalterfüllten Projektionen seiner Mutter dient, kann es von ihr in einer postpartalen Depression oder Psychose als böse gesehen und zum Container ihrer eigenen Gewalt werden. Mütter mit einer solchen Störung gelangen u.U. zu der Überzeugung, dass „das Baby getauft“, d.h. in der Badewanne ertränkt werden müsse, um „es selbst und die Welt vom Bösen zu befreien“. Apprey vertrat die Ansicht, dass psychoanalytische Interventionen, die auf einem Verständnis dieser generationenübergreifenden Prozesse beruhen, destruktive projektive Identifizierungen in eine empathische Kommunikation mit dem Baby transformieren können. Judith Mitrani (1993) beschrieb, wie Defizite des containenden Objekts oder der Fähigkeit des Säuglings, sich ein containendes Objekt zunutze zu machen, eine Vielfalt pathologischer Reaktionen auslösen können. Gravierende Einschränkungen der mütterlichen Fähigkeit zur Reverie (die mitunter auf die Angst zurückzuführen sind, die Selbstbestimmung zu verlieren, penetriert, absorbiert oder verletzt zu werden) können zur Folge haben, dass die Ängste dem Säugling unmodifiziert zurückgegeben werden. Diese Zurückweisung der Verzweiflung des Babys kann zu massiven Projektionen ihres

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