Zurück zum Inhaltsverzeichnis
Im Bereich der Psychoanalyse reicht ein breites Spektrum von erfahrungsnahen phänomenologischen Konzeptualisierungen bis zu den hochabstrakten metapsychologischen Konstrukten der verschiedenen psychoanalytischen Bezugsrahmen. Möglicherweise spiegelt „Selbst“ mehr als jedes andere psychoanalytische Konzept die Ambiguität und die Schwierigkeiten der Geschichte des menschlichen Denkens wider, die ihren Ausdruck in philosophischen und wissenschaftlichen Untersuchungen ebenso wie in der Literatur, der Populärkultur und der Sprache finden. Divergierende philosophische und kulturelle Überlieferungen, die eine Person/ein Selbst auf unterschiedliche und oft widersprüchliche Weise in unterschiedlichen Beziehungen innerhalb einer sozialen, sprachlichen und kulturellen Umwelt verorten, wurden uns von Plato und Sokrates, Aristoteles, Sophokles, Augustinus, Dante, Shakespeare, Montaigne, Descartes, Locke, Hume, Leibniz, Spinoza, Hegel, Husserl, Heidegger, Marx, James, Sartre, Dickinson, de Saussure, Brentano, Bachtin, Foucault, Adorno und Taylor hinterlassen – um nur einige Namen zu nennen. II. A. Philosophische Grundlagen Alle bedeutenden psychoanalytischen Schulen mit ihren oft gegensätzlichen Einstellungen zum Selbstkonzept setzten sich mit althergebrachten philosophischen Fragen auseinander, insbesondere mit der Frage nach einem bewusstseinsinhärenten „homunkularen Selbst“, der Isolation des Subjekts von anderen Selbsten und den intersubjektiven Ursprüngen des Selbst. Ein Beispiel ist eine konzeptuelle Linie des „Selbst“, die mit Platos (und Sokrates’) „Dialogen“ und Aristoteles’ Beiträgen über Psychologie, Politik und Poetik beginnt und sich fortsetzt mit den „Bekenntnissen“ des Augustinus und seiner neuplatonischen These über die kindähnliche Abhängigkeit der Menschen von einem transzendentalen, allmächtigen Wesen/Gott, Hegels „Herrschaft und Knechtschaft“ als Grundlage der schottisch-englischen empiristischen Philosophie Bacons, Humes, Lockes und anderer, die die Person/das Selbst in verschiedenartigen Beziehungen innerhalb des breiten kulturellen und natürlichen Kontextes verorteten, und schließlich mit Fairbairns Primat der Objektbeziehungen in Entwicklung und Pathologie sowie mit Winnicotts Objektverwendung durch das Selbst und die intersubjektiven Wurzeln der Strukturbildung mit Verbindungen zu Lacans „Schweigen in der Begegnung“. Auf andere Weise konzeptualisierte Kohut das Selbstobjekt und die Selbstobjekt- Übertragung. Aufzuführen ist des Weiteren ein Spektrum intersubjektiver und relationaler psychoanalytischer Theorien aus sämtlichen psychoanalytischen Regionen (siehe den Eintrag INTERSUBJEKTIVITÄT), allesamt mehr oder weniger kompatibel mit modernen Philosophen wie Marcuse, Foucault, Heidegger und MacIntyre, die sich auf Theorien der Relativität und der interpersonalen Beziehungen stützen. Bachtins
618
Made with FlippingBook - Online magazine maker