Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Psychoanalyse und vor allem auf die Komplexität und Ambiguität des Freud’schen Ichs gezweifelt. Freud bezeichnete als „Ich“ – von Strachey mit „ego“ ins Englische übersetzt – sowohl eine psychische Struktur als auch eine psychische Instanz, darüber hinaus aber auch das persönlichere, subjektive, erfahrende „Selbst“. Er traf zwischen dem metapsychologischen „Ich“ und dem erfahrenden „Selbst“ keinen Unterschied. Spätere Autoren, die das deutsche Original und Stracheys Übersetzung miteinander verglichen haben (Kernberg 1982; Laplanche und Pontalis 1973; Gammelgaard 2003), halten die Ambiguität von Freuds „Ich“ eher für eine Stärke als für eine Schwäche, weil sie eine reiche innere Spannung zwischen den erfahrungsbezogenen/subjektiven und den selbstreflektierten/objektivierenden Eigenschaften des Ich-Begriffs zum Ausdruck bringt. Ihrer Ansicht nach strebte Strachey nach Konsistenz, die aber dann zu Lasten der Freud’schen Terminologie ging: der Doppelaspekt von „Ich“ ging verloren. In manchen Fällen setzt Freud (1930a, 1930b) Selbst und Ich gleich. In „Das Unbehagen in der Kultur“ benutzt er „Selbst“ und „Ich“ in ein und demselben Satz: „Normalerweise ist uns nichts gesicherter als das Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs” (Freud 1930b, p. 423). Entsprechend übersetzt Strachey: “Normally, there is nothing of which we are more certain than the feeling of our self, of our own ego” (Freud, 1930a, p. 65). In anderen Fällen setzt Freud das Selbst mit der ganzen Person gleich. So schreibt er über das „kranke Ich“: „Das kranke Ich verspricht uns vollste Aufrichtigkeit, […] wir sichern ihm strengste Diskretion […]” (Freud 1940b, p. 98). Bei Strachey heißt es: „The sick ego promises us the most complete candor […] we assure the patient of the strictest discretion”(Freud 1940a, S. 173). Ebenfalls im „Abriß der Psychoanalyse“ beschreibt Freud das Selbst als einen Aspekt des Ichs: „[…] wenn das Ich einer Versuchung erfolgreich widerstanden hat, etwas zu tun, was dem Überich anstössig ware, fühlt es sich in seinem Selbstgefühl gehoben” (Freud 1940b, S. 137). In Stracheys Übersetzung: “[…] if the ego has successfully resisted a temptation to do something which would be objectionable to the superego, it feels raised in its self-esteem“ (Freud 1940a, S. 206). Im selben Text (Freud 1940a, 1940b) fasst Freud Überlegungen aus früheren Schriften zusammen (Freud 1914) und stellt die „Ichliebe“, also offensichtlich die Selbstliebe, der „Objektliebe“ gegenüber (Freud 1940b, S. 71). Stracheys Übersetzung lautet: “the contrast between ego-love and object-love” (Freud 1940a, S.148). Solche Übersetzungen, die die Ambiguität verwirrend erscheinen lassen, mögen zu Heinz Hartmanns Bedürfnis beigetragen haben, zwischen Ich und Selbst sowie zwischen dem Selbst und den Selbstrepräsentanzen zunehmend zu trennen – eine Maßnahme, die zwar weiteren konzeptuellen Entwicklungen zuträglich war, gleichzeitig aber die Konzeptualisierung der Beziehungen zwischen den unpersönlichen Ich-Funktionen einerseits und der Subjektivität andererseits erschwerte

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