Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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„erbarmungslos“, ohne Rücksicht auf dessen Subjektivität, benutzen. Eine gesunde Selbstentwicklung setzt voraus, dass das Objekt/die Mutter die Bedürfnisse des Säuglings auf „hinreichend gute“ Weise „überlebt“, d.h. befriedigt, und sich gleichzeitig ihre Subjektivität bewahrt. Unter diesen Umständen kann das Kind sich einer Anderen bewusst werden, die seine Aggression überlebt und seiner omnipotenten Kontrolle entzogen ist – eine Vorbedingung für die Entwicklung eines zu genuiner Objektbezogenheit und Empathie fähigen Selbst. Wenn die eigene Subjektivität der Mutter ihre Fähigkeit beeinträchtigt, die Bedürfnisse des Kindes ungeachtet seiner Aggression zu befriedigen, lassen die Frustrations- und Fragmentierungsgefühle, die im Kind auftauchen, ein defensiv konstruiertes „falsches Selbst“ entstehen. Unter diesen Umständen lernt das Kleinkind vorzeitig, sich den Bedürfnissen seiner Mutter anzupassen, um zu überleben. Am Anfang steht also laut Winnicott (1958 [1952]) die Einheit von Mutter und Säugling: „Zunächst ist nicht das Individuum die Einheit“ (S. 221). Unter dem Blickwinkel des Babys betrachtet, gibt es anfangs keinerlei Unterscheidung zwischen Selbst und Objekt. Der Säugling befindet sich in einem unintegrierten Zustand – „Wir postulieren eine primäre Unintegriertheit“ (Winnicott 1958 [1945], S. 149) – und ist vollständig abhängig von dem sensiblen, sowohl körperlichen als auch psychischen Holding der Mutter. Die „primäre Mütterlichkeit“ [primary maternal preoccupation] wiederum versetzt die „durchschnittlich hingebungsvolle Mutter“ in einen Zustand der gesteigerten Sensibilität gegenüber dem Baby, und diese Sensibilität ermöglicht es ihr, „sich den Bedürfnissen des Säuglings feinfühlig und einfühlsam anzupassen“ (Winnicott 1958 [1956], S. 302). Das mütterliche Holding schafft die Bedingungen, unter denen das Baby sich seines „fortdauernden Seins“ (1965 [1960a]) bewusst werden kann, einer aufkeimenden persönlichen Kontinuität, die dem Auftauchen eines Selbstgefühls als Grundlage dient. Dieses Selbstgefühl beruht in erster Linie auf Körperempfindungen und Körperfunktionen. Wenn das mütterliche Holding unzulänglich ist – weil es über allzu lange Zeiträume fehlt oder weil die Mutter das Kind intrusiv bedrängt -, zerbricht das Gefühl des kontinuierlichen Seins und das Baby fällt in einen Zustand nicht denkbarer Angst (einer Angst, ins Unendliche zu fallen, in Stücke zu zerfallen, jegliche Orientierung zu verlieren), auf die es instinktiv mit einem vorzeitigen, rigiden „Selbst-Holding“ (Winnicott 1965 [1962], S. 58) reagiert. Dieses Sich-selbst-Halten ist ein Aspekt des „falschen Selbst“ (s. unten), das „den Selbstkern verbirgt und schützt“ (ebd.). Die allmähliche Entwicklung vom unintegrierten Zustand zur Integration setzt früh in Form angeborener, natürlicher Prozesse, die durch das Holding der Mutter und befriedigende Trieberfahrungen unterstützt werden, ein. Winnicott unterscheidet zwischen „Ich-Bezogenheit“ [ego-relatedness] und „Es-Bezogenheit“ [id-relatedness]. Die Ich-Bezogenheit hängt mit der Holding-Funktion der Mutter zusammen, die Es- Bezogenheit mit der Mutter als Objekt der Triebstrebungen des Kindes. Das primitive Selbst ist schonungslos. „Wir müssen eine frühe, erbarmungslos Objektbeziehung postulieren“ (Winnicott 1958 [1945], S. 154). Die Veränderung von einer Einstellung

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