Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

‚Nicht-Ich‘-Objekten aufnimmt“ (Winnicott 1965 [1962], S. 57). Der Säugling oszilliert also zwischen diesen beiden Zuständen. Wichtig ist jedoch, dass er immer wieder die Möglichkeit erhält, die Illusion zu haben, das Objekt selbst zu erschaffen. Sie ist die eigentliche Grundlage dafür, dass das Kind das Gewahrsein eines persönlichen Selbst entwickeln kann. Das falsche Selbst erfüllt die Funktion, das wahre Selbst vor Ausnutzung zu schützen; es ist auch für die Beziehung zur Umwelt zuständig. Winnicott beschreibt verschiedene Grade der Organisation des falschen Selbst: „An einem Extrem: Das falsche Selbst gibt sich als reales aus, und Beobachter neigen dazu, es für die reale Person zu halten. Im Beziehungsleben […] aber beginnt das falsche Selbst zu versagen […]. Das wahre Selbst ist verborgen. […] Weniger extrem: Das falsche Selbst schützt das wahre Selbst […], das als ein Potential anerkannt und dem ein geheimes Leben zugestanden wird. […] Mehr in Richtung Gesundheit: Hauptanliegen des falschen Selbst ist die Suche nach Bedingungen, die es dem wahren Selbst ermöglichen, zur Geltung zu kommen. Wenn sich solche Bedingungen nicht finden lassen, muss eine neue Abwehr gegen die Ausbeutung des wahren Selbst organisiert werden. […] In Gesundheit: Das falsche Selbst wird von der Gesamtorganisation der höflichen und artigen sozialen Einstellung repräsentiert, dass man ‚sein Herz nicht auf der Zunge trägt‘“ (Winnicott 1965 [1960b], S. 142f.). Ein Aspekt des falschen Selbst und der vorzeitig entwickelten Holding-Funktion, den Winnicott (1958 [1949]) unterstreicht, betrifft einen Widerstreit zwischen dem Geist und dem Psyche-Soma, in dem „das Denken des Individuums die Sorge um das Psyche-Soma zu übernehmen und zu organisieren beginnt, während im gesunden Zustand die Umwelt diese Funktion erfüllt […]. Die Psyche wird in den Geist [den Intellekt] hinein- und aus der engen Beziehung, die sie ursprünglich mit dem Soma verband, herausgelockt“ (S. 246f.). So kommt es zu einer Dissoziation zwischen intellektuellen Fähigkeiten einerseits und psychosomatischer Existenz andererseits, und „das Individuum versucht, das persönliche Problem durch Einsatz eines geschliffenen Intellekts zu lösen. Das Ergebnis ist ein klinisches Bild, das sehr leicht zu täuschen vermag“ (Winnicott 1965 [1960b], S. 144). Für das Individuum geht diese Situation mit dem Verlust eines tiefgründenden Selbstgefühls einher, für das die enge Verbindung zwischen Psyche und Soma unerlässlich ist. Winnicott formuliert seine Erläuterungen des wahren Selbst absichtlich vage: „Es hat wenig Sinn, das Konzept eines wahren Selbst zu formulieren, es sei denn, um zu versuchen, das falsche Selbst zu verstehen, denn eine solche Formulierung leistet nicht mehr, als detailliert das Erleben von Lebendigkeit aufzuzählen“ (ebd., S. 148). Das wahre Selbst ist ein angeborenes Potential, individuell einzigartig und von Grund auf abhängig von einer unterstützenden Umwelt, damit es überhaupt artikuliert und erfahren werden kann. Es ist die Quelle der Kreativität und des Gefühls, real und lebendig zu sein: „In der frühesten Phase ist das wahre Selbst die theoretische Position, von der die spontane Geste und die personale Idee ausgehen. […] Das wahre Selbst geht hervor aus der Lebendigkeit der Körpergewebe und der Aktivität der

632

Made with FlippingBook - Online magazine maker