Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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vollzieht. Im Gegensatz zu Freuds intrapsychischem und psychosexuellem Fokus betont Erikson die zentrale Rolle, die soziale und Umweltfaktoren für die Entwicklung spielen. Er verstand die Entwicklung als einen lebenslangen Prozess, den er in acht Stadien unterteilte. Jedes von ihnen organisiert sich um einen zentralen psychosozialen Konflikt (z.B. Grundvertrauen vs. Grundmisstrauen in der ersten Phase). Er betrachtete sämtliche im Säuglingsalter beginnenden und während der gesamten Kindheit sich fortsetzenden Identifizierungen als den primären Modus der Selbstentwicklung, verstand aber die Adoelszenz, den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter, als kritische Phase der Identitätskonsolidierung. Laut Erikson bildet sich die Identität im Anschluss an eine gewisse Rollenkonfusion, die mit sozialem Experimentieren einhergeht, heraus. Er prägte den Begriff der Identitätskrise, um die Turbulenzen zu beschreiben, die die Entwicklung des Selbstgefühls häufig begleiten, und brachte diesen Wendepunkt in der menschlichen Entwicklung mit der Versöhnung der Person, zu der man geworden ist, mit der Person, zu der man gemäß den gesellschaftlichen Erwartungen werden sollte, in Verbindung. Dieses auftauchende Selbstgefühl geht Hand in Hand mit dem Prozess, die Erfahrungen aus der Vergangenheit mit den Erwartungen an die Zukunft zu vereinen. Edith Jacobson (1964) orientierte sich sowohl an Freud als auch an Hartmann. Dank ihrer klinischen Erfahrung mit psychotischen Patienten trug sie zur Klärung der Unterscheidung zwischen den Selbst- und den Objektrepräsentanzen früher Introjektionen und der Entwicklung dieser Strukturen bei. Sie wollte Freuds Betonung der inneren, triebhaften Prozesse mit der Bedeutsamkeit realer Erfahrungen in Einklang bringen, indem sie ein Entwicklungsmodell formulierte, das deren fortlaufende Interaktion und wechselseitige Beeinflussung darlegte. Jacobson betonte, dass das Ich und das Über-Ich sich Hand in Hand mit Selbst- und Objektrepräsentanzen entwickelt, und unterstrich die zentrale Rolle, die dem Affekt in diesem Prozess zukommt. Sie führte die Konzeptualisierung von „Imagines“ ein, um die Genese der Repräsentation des Selbst und Anderer als zentrale Determinanten des mentalen Funktionierens zu spezifizieren (Fonagy 2003 [2001]). Jacobson (1954) erläuterte, dass die Art und Weise, wie der Säugling die Andere wahrnimmt, noch vor der Herausbildung der Grenzen zwischen Selbst und anderen Menschen die Selbstwahrnehmung prägt. So bestimmt das wichtige Zusammenspiel von realer Erfahrung und Trieb (Libido und Aggression) die Gefühlstönung früher Erfahrungen und schafft die Grundlage für Selbst- und Objektimagines, die letztlich für die Gefühle ausschlaggebend sein können, die wir in Bezug auf uns selbst und andere empfinden. Beunruhigende, verstörende Erfahrungen können z.B. die Imagines eines abweisenden, nicht-gebenden Objekts und eines wütenden, frustrierten Selbst entstehen lassen. Hingegen ermöglichen überwiegend befriedigende Interaktionen die Verinnerlichung positiver Selbst- und Objektimagines. Jacobsons Beschreibung der Separation-Individuation stützt sich auf Freuds (1940b) Beschreibungen von Libido und Aggression als verbindungsstiftende bzw. verbindungsauflösende Kräfte. Sie hielt die Libido für das wesentliche Element, das es

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