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von George Herbert Mead (1934), war er überzeugt, dass wir uns selbst nur in der Beziehung zu Anderen kennenlernen können. Er vertrat die radikale These, dass das Selbst lediglich eine Ansammlung der Bewertungen durch diejenigen sei, zu denen wir Kontakt haben, und dass es aus einem Arrangement sogenannter „Ich-du“-Muster bestehe (Sullivan 1953). Laut Sullivan ist das individuelle Selbst außerhalb des komplexen Netzwerkes aus interpersonalen Beziehungen, in die wir unvermeidlich eingebettet sind, nicht zu verstehen. Eine Konsequenz dieser „feldtheoretischen“ Perspektive war seine feste Überzeugung, dass das Gefühl eines inneren Selbstkerns eine narzisstisch besetzte Fiktion sei. Tatsächlich nahm Sullivan (1950) an, dass Menschen „ebenso viele Persönlichkeiten haben wie interpersonale Beziehungen“ (S. 221). Seiner Meinung nach ist das Selbst geteilt in das „gute Ich“ – das, was ich an mir selbst mag –,das „schlechte Ich“ – das, was mir an mir nicht gefällt -, und in „Nicht- Ich“-Aspekte des Selbst, die so große Angste erregen, dass sie durch Dissoziation verleugnet werden müssen. Sullivans Verständnis dieser multiplen Selbste und seine Beschreibung selbsterhaltender dissoziativer Prozesse wurden zur Leading-edge der modernen relationalen Sichtweisen des Selbst, als deren herausragende Vertreter Philip Bromberg (1998, 2006, 2011) und Donnell Stern (1997, 2010) gelten. Sullivan entwickelte das Konzept des „Selbstsystems“, um die Konfiguration der Persönlichkeitszüge und Sicherheitsmaßnahmen zu erklären, die ein relatives Sicherheits- und Stabilitätsgefühl aufrechterhalten sollen. Dieses Selbstsystem hat die Funktion, das Individuum vor unangemessener Scham und Angst zu schützen, indem es Mechanismen wie Dissoziation und selektive Unaufmerksamkeit einsetzt. Sullivans Betonung des „Anderen“ als Gefahrenquelle stimmt mit zeitgenössischen, auf einer Zwei-Personen-Psychologie beruhenden Perspektiven überein. In der Sullivan’schen Tradition einer feldtheoretischen Perspektive versteht Bromberg (1998) die Psyche als eine „Konfiguration wechselnder, nicht-linearer Bewusstseinszustände in fortwährender Dialektik mit der notwendigen Illusion einer einheitlichen Selbstheit“ (S. 7). An Sullivan anknüpfend, hält er „Nicht-Ich“- Erfahrungen für ubiquitär und unvermeidlich und erklärt, dass Dissoziationsprozesse eine gesunde, adaptive, primäre und selbstschützende Funktion der menschlichen Psyche erfüllen können, die Freuds Verdrängung oder Sullivans Selbstsystem ähnelt (Bromberg 1998, 2006, 2010). Definitionsgemäß ist „das Selbst“ für Bromberg eine Ansammlung von „Ich“- und verleugneten „Nicht-Ich“-Zuständen. Bezüglich der Unvermeidbarkeit eines gewissen Grades an Dissoziation betont Bromberg, dass der Grad an Dissoziation zwischen den Selbstzuständen die Ebene der Psychopathologie determiniert. Die extremsten Beispiele sind demnach psychotische Erfahrungen. Die zeitgenössische relationale feldtheoretische Sicht des Selbst hat Implikationen für das Verständnis von Interaktionen. Bromberg und andere zeitgenössische relationale Denker (z.B. D. B. Stern, E. Levenson) sehen in der Interaktion zwischen zwei Selbsten eine komplexe, sich laufend verändernde Verflechtung bewusster wie auch unbewusster Elemente, die einander wechselseitig beeinflussen. Eine erfolgreiche Behandlung setzt laut Bromberg die Anerkennung
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