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dieser dissoziierten Selbstzustände voraus, die in der analytischen Beziehung agiert werden; nur so können sie vom Patienten neuorganisiert werden. Bromberg (1998) versteht Gesundheit als Fähigkeit unserer multiplen Selbstzustände, einander zugänglich zu sein, statt sich durch defensiv determinierte Dissoziationsprozesse gegeneinander abzuschließen. Diese Fähigkeit, ein Ideal, bedeutet, „in den Räumen“ zwischen Selbstzuständen „zu stehen“. Es ist, wie Bromberg es ausdrückt, „die Fähigkeit, sich wie ein Selbst zu fühlen und viele Selbste zu sein“ (S. 274). Stephen Mitchell (1991) betrachtet das Selbst gleichfalls als “multipel und diskontinuierlich”, als eine Ansammlung von Selbstzuständen, die den internalisierten Objektbeziehungen ähneln. Er betont jedoch, dass Menschen ein deutliches Gefühl eines persönlichen, privaten, gegen Andere klar abgegrenzten Selbst haben. Er erklärt diesen scheinbaren Widerspruch mit dem Hinweis, dass sich jede Definition auf einen anderen Aspekt des Selbst beziehe. Das „multiple Selbst“ ist demnach das Selbst als Aktion, d.h. es besteht aus „multiplen Konfigurationen einer selbststrukturierten Variabilität in unterschiedlichen Kontexten“ (S. 139); hingegen ist das private, einheitliche Selbst eine „subjektive Erfahrung des sich selbst herstellenden Musters, einer Aktivität, die über einen längeren Zeitraum und in unterschiedlichen Organisationsschemata erlebt und als ‚meine spezifische Weise, Erfahrung zu verarbeiten und zu gestalten‘, anerkannt wird“ (S. 139). Während traditionellere Sichtweisen (z.B. Freud, Klein, Winnicott) das Selbst als eine vertikale Organisation betrachten, an deren Oberfläche sich die defensiv konstruierten, sozial angepassten Teile befinden und die weniger akzeptablen, bisweilen unbewussten Teile verdecken, bevorzugen zeitgenössische relationale/interpersonale Theoretiker ein horizontales Modell. So schreibt Donell Stern (2010): “Die Psyche ist hier keine vertikale, aus Bewusstem und Unbewusstem bestehende Organisation, sondern eine horizontal organisierte Ansammlung von Selbstzuständen , die in dynamischer Beziehung zueinander stehen” (S. 139). Ihren vielleicht radikalsten Ausdruck findet die zeitgenössische interpersonale Theorie des Selbst in den Schriften von Edgar A. Levenson (1972, 1991), der sich nachdrücklich für eine absolute Untrennbarkeit von Selbst und Anderem einsetzt und demgemäß auch davon ausgeht, dass Analytiker und Patient unbewusst immer eine affektiv hochgradig besetzte Beziehung zueinander entwickeln. Levenson ist kompromisslos postmodern in seiner Überzeugung, dass jeder Versuch, irgendetwas in Bezug auf einen Menschen zu definieren oder zu erklären, lediglich eine bestimmte Perspektive (einer Person, einer Interaktion, einer Erfahrung) repräsentiert und insofern wahrscheinlich defensiv organisiert wurde, um andere Perspektiven, die womöglich weitere Aspekte eines Menschen und seiner Erfahrung miterfassen, auszuschließen. Mithin betrachtet er psychoanalytische Konzepte wie „das Selbst“ als Reifizierungen von etwas, das im Grunde stets im Fluss ist und nur „im Kontext“ oder als „im Prozess begriffen“ verstanden werden kann. Levensons Selbst besteht ebenso wie Sullivans Selbstsystem aus mannigfaltigen Strategien, die wir einsetzen, um die in unserer interpersonalen Welt drohenden Gefahren zu bewältigen. So entwickeln Menschen
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