Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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„Das wahre Selbst lässt sich nicht umfassend beschreiben. Es ähnelt weniger der Artikulation von Bedeutung durch Worte, die es uns ermöglichen, einen Bedeutungsinhalt etwa durch die Position eines Signifikanten zu isolieren, als vielmehr dem Satz einer Symphonie. […] Jedes Individuum ist einzigartig, und das wahre Selbst ist ein Organisationsidiom, das durch die Verwendung eines Objekts seine persönliche Welt sucht […] die Gestaltung des Lebens ähnelt einer Ästhetik: einer Form, die sich durch ihre Weise des Seins offenbart“ (Bollas 1989, S. 109f.). In dem Kapitel „Das Verwandlungsobjekt“ [„The transformational object“] aus „Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte. Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung“ [„The Shadow of the Object: Psychoanalysis of the Unthought Known”] untersucht Bollas (1997 [1987]) die Anfänge der frühkindlichen Entwicklung dieser individuellen Ästhetik, für die eine fördernde frühe Umwelt unabdingbar ist. Wenn die Mutter nicht feinfühlig auf die spontane Geste des Säuglings eingeht, werden dessen frühe idiomatische Ausdrucksmöglichkeiten blockiert und durch inauthentische Anpassungen ersetzt. Wenn sie sich jedoch auf das auftauchende kindliche Selbst abzustimmen vermag, wird es ihr gelingen, durch subtile bewusste und unbewusste Interaktionen mit dem Baby auf die Kommunikation seines wahren Selbst zu antworten. In „Der Schatten des Objekts“ bleibt Bollas (1997 [1987]) nahe an Winnicotts Beschreibung des wahren Selbst, wenn er „es als „historische[n] Kern der Trieb- und Ich-Dispositionen des Kindes“ (S. 63) bezeichnet, als „Wesenskern des Selbst“ (ebd., S. 218) und als „jene ererbte Disposition […], die den Kern der Persönlichkeit bildet, der auf genetischem Wege übermittelt wurde und als ein Potential im psychischen Raum vorhanden ist“ (ebd., S. 288). Das „Konzept des ungedachten Bekannten beruht demnach in seinem innersten Kern auf Winnicotts Theorie vom wahren Selbst und auf Freuds Idee des primären verdrängten Unbewussten“ (ebd., S. 288). In „Forces of Destiny“ formuliert Bollas (1989) einen entscheidenden Unterschied zwischen „fate“ - Schicksal –– und „destiny“ – Bestimmung/Vorsehung. Er bringt das Schicksal [fate] mit dem Konzept des falschen Selbst und einer reaktiven Lebensführung und die Bestimmung/Vorsehung [Bestimmung] mit der Verwirklichung des eigenen inneren Potentials in Verbindung. Im 4. Kapitel, „The destiny drive“, erläutert er seine Überzeugung, dass dieses Gefühl der Bestimmung der natürliche Kurs sei, den das wahre Selbst durch die zahlreichen Arten von Objektbeziehungen nehme, und dass der „Bestimmungstrieb“, sofern er auftauche, aus den Erfahrungen hervorgehe, die Säuglinge mit der Unterstützung der Entwicklung des wahren Selbst durch die Mutter machten. Im Laufe unseres gesamten Lebens äußert sich unser Idiom durch unsere Wahl und Verwendung von Objekten. In seinem Buch „Genese der Persönlichkeit. Psychoanalyse und Selbsterfahrung“ [„Being a Character: Psychoanalysis and Self Experience”] arbeitet Bollas (2000 [1992]) sein Bild des Idioms als „Intelligenz der

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