Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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unzugänglichen Bereiche des Selbst seines Patienten zu identifizieren; mit seinem eigenen Selbst erlebt er aber auch die Ebenen und die Stärke, mit der das unbewusste defensive Ich des Patienten dessen subjektiven Kontakt zu seinem eigenen Selbst suspendiert, drosselt oder – gewöhnlich – unterbindet (Bollas 1987). Der umfassende und tiefe Kontakt zu seinem eigenen Selbst erlaubt es dem Analytiker, die Anteile aus dem psychischen Leben des Patienten aufzunehmen, zu erleben und zu erkennen, die abgespalten und in ihn hineinprojiziert wurden. (4) Der Kontakt zwischen dem Ich- Selbst des Analytikers und dem Ich-Selbst des Patienten: In dieser Konfiguration ist der Kontakt zum Patienten tiefer. Die vorbewussten Kanäle öffnen sich weiter, und die explorierenden Funktionen des beobachtenden Ichs des Analytikers können Anteile des Patienten und Eigenanteile erhellen, vertiefen und kontaktieren. Hier zieht der Analytiker keine Schlüsse; vielmehr sieht er mehr. Die Introjektionsprozesse herrschen gegenüber den projektiven vor; die vom Analytiker in sich selbst wahrgenommenen Projektionsprozesse des Patienten sind nicht nur Gegenstand der verbalen Kommunikation. Häufiger noch werden sie zum Gegenstand von Identifizierungen und kreativem Spiel. Insgesamt gesehen plädiert Bolognini (1991) für eine erweiterte Definition des Selbstbegriffs. Demnach entspräche das Selbst der inneren Realität (einschließlich der Objektrepräsentationen), die sich als dauerhafter, charakterlicher und konstitutiver Teil der psychischen Welt erweist und zum Objekt des subjektiven Erlebens werden kann. So gesehen, ist der nukleare Teil des Selbst jener, in dem die Elemente, die auf profundeste und authentischste Art und Weise zum Objekt projektiver Identifizierungen wurden, einen organischen Kern mit der hereditären somatopsychischen Konstitution des Individuums bilden. Auf dieser Ebene wird jede psychoanalytische Arbeit, die mit Ent-identifzierungsprozessen einhergeht, unweigerlich unangemessen und destruktiv sein. Dieses nukleare Selbst hat eine Beziehung zu einer tiefen Identität (der Entsprechung zu Winnicotts „wahrem Selbst“). Das Gesamtbild, das durch die inneren Objekte, das Kernselbst und ihre Beziehungen gebildet wird, kann eine basale emotionale Atmosphäre des Selbst vermitteln, dessen gelegentliche Schwankungen in der psychischen Verfassung des Patienten, im Inhalt seiner Träume und in der Atmosphäre der Sitzung erkennbaren Ausdruck finden. Der Analytiker kann entscheiden, ob er dieses Traumtheater beobachten oder aktiv an ihm teilhaben möchte. Im ersten Fall arbeitet er vorwiegend mit seinem Ich; im zweiten Fall bringt er auch sein eigenes Selbst ins Spiel. Verschiedene Kombinationen und Permutationen der analytischen Arbeit, in die Kontakte zwischen dem Ich und dem Selbst des Analytikers wie auch des Patienten einbezogen werden, führen zu Prozessen, die einerseits mit der Weiterentwicklung des Ichs und seiner Emanzipation (von Es und Über-Ich) einhergehen und andererseits mit Erweiterungen und Bereicherungen des Selbst: „Die Erfahrung lehrt uns, dass diese beiden Entwicklungsprozesse einander in einer guten Analyse berühren und sich harmonisch miteinander verbinden müssen, ganz gleich, was auch immer die verschiedenen prominenten Theoretiker der Technik dazu sagen mögen: Das Resultat ist ein Mensch mit einem validen Ich und einem reichen Selbst“ (Bolognini 1991, S. 348f.).

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