Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Laut Blos (1967) kann man sich die Adoleszenz als einen „zweiten Individuationsprozess“ vorstellen; der erste wurde als Separation-Individuation von Margaret Mahler beschrieben. In ihm löst sich das Kind von der Mutter, indem es ihr Bild verinnerlicht. Auf ganz ähnliche Weise muss sich später der Jugendliche von den eigenen internalisierten Objekten seiner Kindheit lösen, um sich Objekten außerhalb der Familie zuwenden zu können. Blos versteht die adoleszente Veränderung als eine Transformation, die zur Definition der Charakterstruktur führt. Dieser Prozess beruht auf der Verankerung realistischer Selbst- und Objektrepräsentationen, auf dem Nachlassen der Strenge des ödipalen Über-Ichs, auf einem wachsenden Einfluss des Ich-Ideals und auf dem Erwerb einer angemessenen sexuellen Identität. Blos beschreibt mehrere Subphasen der Adoleszenz: - die Prädadoleszenz mit dem Moment des höchsten quantitativen Anstiegs des Triebdrucks und der Reaktivierung prägenitaler Triebe; - die Frühadoleszenz, charakterisiert durch den Genitalprimat und die Ablehnung innerer Elternobjekte, - die Spätadoleszenz als Phase, in der sich die Funktionen und Interessen des Ichs konsolidieren und die Selbstrepräsentation strukturiert; - die Postadoleszenz, in der die Aufgabe der Persönlichkeitsumbildung abgeschlossen werden muss. Wenngleich Blos die Unterscheidung zwischen Selbst und Ich nicht vertieft, wurde sein Modell für andere Autoren, die sich mit dem Thema der Individuation und der Unterscheidung von Ich und Selbst in der Entwicklung Jugendlicher beschäftigten, richtungsweisend. Arnaldo Novelletto (2009) untersuchte das Selbstkonzept v.a. mit Blick auf seine Implikationen für das Verständnis der adoleszenten Entwicklung. Innerhalb des „Ich-Selbst-Systems“ unterscheidet Novelletto zwei getrennte funktionale Bereiche voneinander, nämlich das eigentliche Ich und das Selbst. Das Ich bleibt die Instanz, welche die Funktionen der Wahrnehmung, der Realitätsprüfung, des Denkens, des Zugangs zur Funktion/psychischen Dimension des Willens, die Funktion der Abwehrmechanismen und der Angstkontrolle erfüllt. Das Selbst hingegen ermöglicht die Speicherung und Aktualisierung der körperlichen und psychischen Repräsentationen des Selbst, des Gewahrseins der Veränderungsprozesse, der Bearbeitung der mit inneren und äußeren Trennungen verbundenen Trauer, der Charakterbildung, der Selbsterhaltung, der Ausbalancierung narzistischer Besetzungen von Objektrealitäten und der Stimmungshomöostase. In der Adoleszenz kämpft das Ich-Selbst-System mit den beiden anderen Instanzen des psychischen Apparates, dem Es und dem Über-Ich, im Rahmen eines komplexen Umwandlungsprozesses, der zu einer gründlichen Überarbeitung der Repräsentationen führt, die das Subjekt von seiner eigenen Identität, seinen inneren Objektbeziehungen, von der Integration seiner Instinkte [instincts] und von der Orientierung seiner Triebe [drives] aufgebaut hat.

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