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Separation-Individuation mit der modernen entwicklungspsychologischen Forschung integriert und die Selbst-Objekt-Differenzierung als entscheidende Voraussetzung für die Formierung des Selbst hervorgehoben. Im Einklang mit diesen Überlegungen entwickelte Otto Kernberg ein umfassendes amerikanisches Modell der Objektbeziehungen, das Freuds Strukturtheorie, Objektbeziehungen und Neurowissenschaften integriert und „Selbst-Objekt-Affekt-Einheiten“ als Bausteine eines übergeordneten Selbst, als Gesamt der Selbstrepräsentationen, beschreibt. Ein anderes Verständnis der Entwicklung des Selbst ist Arnold Modells – an Winnicotts Werk orientierte – Synthese der Freud’schen Triebtheorie und der Konzepte Winnicotts sowie der Intersubjektivität und der Neurowissenschaften. In diesem Kontext ist das Selbst sowohl ein evolvierendes kontingentes Produkt als auch ein dauerhafter Kern, sowohl ein Prozess als auch eine rekontexualisierte Umschrift einer Erfahrung. Ein bedeutsamer Meilenstein in der Entwicklung der Theorie des Narzissmus und des Selbstkonzepts ist Kohuts Schule der Selbstpsychologie, die die Entwicklung des Selbst und des Selbstwertgefühls ins Zentrum der analytischen Untersuchung rückt und erklärt, wie sich das Selbst durch die Internalisierung der Erfahrungen mit Bezugspersonen herausbildet. Kohut beschreibt, wie frühe Empathieerfahrungen innere „Selbstobjekte“ entstehen lassen, die die Aufrechterhaltung eines stabilen, robusten Selbst, das auch die Enttäuschungen des Lebens zu tolerieren vermag, unterstützen. Er erklärt auch, auf welche Weise das Empathieversagen der Bezugspersonen einer narzisstischen Psychopathologie Vorschub leisten kann. Seine radikale Revision der psychoanalytischen klinischen Praxis betonte die Notwendigkeit, dass der Analytiker seinem Patienten die Selbstobjekterfahrungen zuteilwerden lässt, die diesem in der Kindheit verwehrt blieben. Laut Harry Stack Sullivan, Urheber der interpersonalen Theorie in der Psychiatrie und Gründer der interpersonalen Psychoanalyse, ist das „Selbst“ eine Ansammlung unterschiedlich wiedergegebener Beurteilungen durch Andere. Sein Konzept sieht multiple Selbste vor, nämlich für jede Beziehung ein etwas anderes Selbst. Nicht Schuld-, sondern Schamgefühle stehen nach Ansicht Sullivans im Zentrum menschlicher Erfahrung, denn Gefahr droht in der Begegnung mit Anderen. In Anlehnung an Sullivan nehmen zeitgenössische Interpersonalisten und relationale Theoretiker wie Bromberg, Stern, Mitchell und Levenson an, dass das Selbst im interpersonalen Feld auftaucht. Weil es auf die in ständiger Veränderung begriffenen Beziehungserfahrungen reagiert, ist es zwangsläufig multipel. Bromberg hält die Psyche für eine Ansammlung von „Selbstzuständen“ und betrachtet das „einheitliche Selbst“ als notwendige Illusion. Demnach werden die besonders bedrohlichen Selbstzustände als „Nicht-Ich“-Erfahrungen erlebt und unterliegen der Dissoziation. Ausschlaggebend für die Psychopathologie ist der Grad an Dissoziation; extremere Beispiele sind psychotische Erfahrungen. Mitchell beschreibt eine Ähnlichkeit zwischen multiplen Selbstzuständen und internalisierten Selbstobjektbeziehungen. Allerdings postuliert er ein distinktes, fundiertes „persönliches Selbstgefühl“, das als
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