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entsprechenden Erweiterung der psychoanalytischen Praxis auf zeitgenössische Pathologien in Verbindung gebracht. Angelehnt an Nemirovskys Betonung der Notwendigkeit, angemessene theoretische Instrumente zu entwickeln, um die klinischen Probleme der heutigen psychoanalytischen Praxis handhaben zu können, wird das Konzept des Selbst von Psychoanalytikern als Möglichkeit gesehen, auf eine bessere Unterstützung der heutigen, unter schweren Persönlichkeitsstörungen leidenden Patientenpopulation hinzuarbeiten. Insgesamt gesehen können wir festhalten, dass sich die Erforschung und Anwendung des Selbstkonzepts in Lateinamerika in drei Phasen vollzog. Die erste umfasste die 1960er und 1970er Jahre und konzentrierte sich auf die Definition des Selbst und seine Unterscheidung vom Ich [ego]. In der zweiten Phase gingen eine stärkere Verbreitung der Konzepte Winnicotts und Kohuts sowie deren klinische Anwendung mit einer theoretischen Weiterentwicklung einher, die auf die Neuheit dieser Konzeptualisierungen gegenüber den klassischen freudianischen und kleinianischen Bezugsrahmen abhob. In dieser Phase erhielt die Erforschung des Selbst durch André Greens Reinterpretation von Winnicotts Konzepten frischen Auftrieb. Im 21. Jahrhundert führten die wiedererstarkte Kritik am technischen Dogmatismus und die Notwendigkeit, Störungen zu verstehen, bei denen Isolation und Apathie dominieren, zu einer Betonung der Beziehungsaspekte. Damit einhergehend erwachte das Interesse an der interpersonalen und relationalen Psychoanalyse in der Region, das nun als weiterer neuer Stimulus der laufenden theoretischen Weiterentwicklungen dient, die das Konzept des Selbst in den Vordergrund rücken. Stark geprägt durch die lateinamerikanische kulturelle Identität, aber weltweit anwendbar, können Pichon Rivières psychoanalytische Konzeptualisierungen der Links und Brücken zwischen innerer und äußerer Welt sowie seine „dialektische Spirale“ , die gegenläufige regressive und progressive, aber auch anders geartete gegensätzliche Entwicklungen miteinander verbindet, auch auf den größeren Kontext der Weiterentwicklungen des Selbstkonzepts in den verschiedenen Regionen und in den unterschiedlichen psychoanalytischen Schulen Anwendung finden. In sämtlichen psychoanalytischen Orientierungen und Kulturen dienen das multidimensionale Spektrum an theoretischen Konzeptualisierungen des Selbst und seine Implikationen für eine sensibel abgestimmte, moderne klinische psychoanalytische Arbeit mit einer großen Bandbreite an schweren Erkrankungen als „eingebauter“ Schutz vor einem Dogmatismus und der Rigidität alter und neuer Orthodoxien.
Siehe auch: KONFLIKT GEGENÜBERTRAGUNG
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