Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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oder konstruierten lebensgeschichtlichen Narrativen verflochten sind, erfordert eine in höherem Maß gesteuerte Ausrichtung der Aufmerksamkeit. Eine wichtige Möglichkeit des Analytikers, sich einen Eindruck von den frühen Objektbeziehungen des Patienten zu verschaffen, ist das Verstehen des Übertragungserlebens im Hier und Jetzt. Repetitive Muster im Hier und Jetzt können internalisierten Selbst-Objekt-Konfigurationen entsprechen, die die Übertragungs- Gegenübertragungsbeziehung konfigurieren. Diese Ausrichtung der Aufmerksamkeit und des Zuhörens hat zum Ziel, das lebensgeschichtliche Narrativ des Analysanden oder dessen persönliche Mythen über seine Vergangenheit durchzuarbeiten und umzuschreiben; d.h., hier geht es um Laplanches (1994) Konzept des Kindes als Hermeneut, das für den sich herausbildenden Prozess der historischen Umschrift und der Erzeugung neuer Bedeutungen eine Rolle spielt. Während zu dieser Haltung auch eine unausgesetzte Rezeptivität für emergente (und vielleicht neue) Seinsweisen gehört, liegt die Betonung auf dem Erkennen und Identifizieren des repetitiven fehlangepassten Abwehrverhaltens, das im Hier und Jetzt zutage tritt. Dieser Bereich der therapeutischen Wirkung repräsentiert einen Aspekt der Haltung, welche die Entwicklung eines tieferen Verständnisses der Vergangenheit anstrebt, allerdings nicht in einer Weise, die Erinnerungen an die Vergangenheit als statisch, präformiert und innerlich lokalisierbar begreift oder ihre Prägung durch unbewusste Phantasie unberücksichtigt lässt. Lebensgeschichtliche Bezüge existieren hier nicht in einer Eins-zu-eins-Beziehung zu dem, was tatsächlich geschehen ist; ebenso wenig sind agierte Szenarien originalgetreue Reproduktionen der Vergangenheit. Alte Muster tauchen auf und entwickeln sich weiter und werden in der Nachträglichkeit des analytischen Prozesses umgeschrieben und rekonstruiert. Insbesondere wirken neue Erfahrungen alten, fehlangepassten Erwartungen und starren Szenarien entgegen. Auf diese Weise verändern sich lebensgeschichtliche Narrative im Zuge des sich entfaltenden analytischen Prozesses. In diesem Aufmerksamkeitsmodus behält der Analytiker das auftauchende historische Narrativ des Analysanden vorbewusst im Hinterkopf, was es ihm erleichtert, Beziehungsmodi zu identifizieren, die u.U. Wiederholungen der Vergangenheit darstellen. Sobald solche Beziehungsmuster identifiziert werden, kann der Analytiker Übertragungsdeutungen verschiedener Art anbieten, um das Verständnis dieser Muster zu vertiefen. Roth (2001) beschreibt vier Ebenen der Übertragungsdeutung, die die Lebensgeschichte des Patienten mit gegenwärtigen oder äußeren Ereignissen, mit unbewussten Phantasien und mit Enactments in der Analytiker-Analysand-Beziehung in Verbindung bringen sollen. Anhand einer (zuvor von Giovacchini [1982] geschilderten) klinischen Vignette stellt Roth diese vier Ebenen der Übertragungsdeutung, unter denen der Analytiker ständig auswählt, dar: Die Identifizierung von Beziehungsmustern, in denen sich unbewusste, phantasierte Erwartungen, Ängste und/oder traumatische Wiederholungen zu erkennen geben, ist eine Deutungsstrategie, die diesen gesteuerten Ansatz von der ausdauernden

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