Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Formen unterstützt wird, um psychische Weiterentwicklung zu fördern. Kennzeichnend für diese Aufmerksamkeitsausrichtung sind Geduld, Offenheit, Abwarten und Toleranz für die Ungewissheit dessen, was vielleicht auftauchen wird. Unbewusste Prozesse können jegliche Form annehmen. Im Erleben im Hier und Jetzt sind sie vermutlich allgegenwärtig. Diese Art des Zuhörens entsprichts Freuds gleichschwebender Aufmerksamkeit, Bions Zuhören ohne Erinnerung und Wunsch (2018 [1965]) sowie Ogdens (2005) Versunkensein in Reverie. Bei einer diffusen Zuhörensweise stehen unbewusste Erfahrung und Material nicht zwangsläufig in einer Beziehung zueinander, deutlich betont aber wird das Hier- und-Jetzt-Erleben in der analytischen Dyade. Eine Offenheit für nichtrelationale Symbole , die u.U. auf unbewusste Emanationen verweisen, ist für dieses Vorgehen, das besonderen Wert auf die Erweiterung des Spiels und psychischer Weiterentwicklung legt, charakteristisch. Die Identifizierung repetitiver Muster der analytischen Dyade ist ausdrücklich nicht Teil dieser Haltung, ebenso wenig wie die Hinwendung zum lebensgeschichtlichen Narrativ des Analysanden. Vielmehr ist dieser Prozess „an sich bereichernd und transformierend“ (Ferro und Civitarese 2013). Die Theoretiker, die mit der Priorisierung dieser klinischen Haltung typischerweise in Verbindung gebracht werden, sind diejenigen, die man auch mit der Vielfalt an Feldtheorien, mit Orientierungen, die sich von Winnicott herleiten, und mit Spieltherapien für Kinder in Verbindung bringt. Der Analytiker bewahrt eine unkritische Einstellung gegenüber der auftauchenden Erfahrung des Analysanden, und zwar vor allem in Bezug auf solche Erfahrungen, die mit repetitiven Mustern aus dessen Vergangenheit oder mit seinem lebensgeschichtlichen Narrativ nicht im Einklang stehen. Als Beispiel für diese analytische Haltung schildert Bion (2018 [1965]), wie er einem verheirateten Patienten zuhörte und wahrnahm, dass dieser „sich auf eine Art und Weise ausdrückte, wie es vollkommen angemessen gewesen wäre, wäre er nicht verheiratet gewesen“ (S. 7). Ein weiteres Beispiel stammt von Winnicott (1971), der gegenüber seinem Analysanden erklärt: „Ich höre einem Mädchen zu. Ich weiß sehr wohl, dass Sie ein Mann sind, aber ich höre einem Mädchen zu, und ich spreche zu einem Mädchen. Ich sage zu diesem Mädchen: ‚Du sprichst über Penisneid.‘“ (S. 98) Zu den mit dieser Haltung in Verbindung gebrachten nordamerikanischen Autoren zählen Arnold Modell (1989, 1990, 2001, 2005), Lawrence Brown (2011), Thomas Ogden (1994, 2005), Howard Levine (2009, 2011, 2012, 2013), Donnel B. Stern (1997, 2010, 2015) und andere. Eine Möglichkeit, diesen Zugang zu praktizieren, besteht darin, die Sitzung als eine Traumerfahrung zu betrachten (Ferro 2009; Cassorla 2005, 2017a). Dies ist die Linse, durch die jede Sitzung verstanden und konstruiert wird. Die Sitzung selbst wird als eine neue Erfahrung betrachtet, die durch unbewusste Mechanismen erzeugt wird, denen das gesamte Setting als Requisiten oder als „Charaktere/Figuren im Feld“ dient (Ferro 2009; Cassorla 2005). Illustriert wird dieser Ansatz auch durch Cassorlas (2005, 2018) Ausarbeitung seines „Theatermodells“ des analytischen Feldes: 1.

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