Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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auf seinen klinischen Entdeckungen beruhten. Es besteht immer ein Risiko, die Psychoanalyse in einer reduktionistischen Theorie erstarren statt freudianische Offenheit und Aufgeschlossenheit walten zu lassen. Die britische Middle Group, französische Autoren wie André Green, Jean-Luc Donnet und René Kaës und italienische Analytiker wie Francesco Corrao und Antonino Ferro sind europäische Repräsentanten dieser Aufgeschlossenheit. In dieser Hinsicht stützen sich europäische Feldtheoretiker auf die Lateinamerikaner Willy und Madeleine Baranger und Fabio Herrmann, die – wiewohl auf unterschiedliche Weise – maßgebliche Beiträge zu dieser modernen, offenen und antidogmatischen Strömung in der Psychoanalyse geleistet und gleichzeitig an einem freudianischen, aber pluralistischen Anker festgehalten haben, der insbesondere im Falle nicht-neurotischer psychischer Strukturen erforderlich ist. In Nordamerika haben die grundlegende wechselseitige Bezogenheit , die Intersubjektivität und die Interdependenz der menschlichen Entwicklung viele Autoren veranlasst, sich mit je unterschiedlich konzipierten ko-kreierten Konfigurationen des „dynamischen bipersonalen“ Feldes und/oder der Begegnung multipler Subjektivitäten zu beschäftigen. Hier können unter wechselseitiger maßgeblicher Beeinflussung neue Bearbeitungen/Erweiterungen statt einfacher Wiederholungen der individuellen unbewussten und/oder vorbewussten Phantasien, Einstellungen und Verhaltensweisen beider Partner der Dyade auftauchen. Dieses Denken steht im Einklang mit den klinischen Erfahrungen und der Überzeugung vieler Autoren, dass es ein lebenslanges Potenzial für neuartige und kreative Äußerungen von zuvor ausgeschlossenem, dissoziiertem oder aus anderen Gründen unintegriert gebliebenem psychischem Inhalt gibt. Teil des heterogenen Ensembles nordamerikanischer Feldkonzipierungen sind zwei umfassende Theorien, nämlich die Theorie des bipersonalen Kommunikationsfeldes von Robert Langs und die Theorie des interpersonalen Feldes von Donnel B. Stern. Zudem finden sich im zeitgenössischen freudianischen Denken, in der modernen Konflikttheorie, der intersubjektiven Ich-Psychologie, der post-kleinianischen, post- bionianischen sowie in der französischen Tradition feldbezogene Konzipierungen, die aus wechselseitigen Beeinflussungen hervorgegangen sind. Die Betonung von Erweiterung, Wachstum, expressiver und/oder relationaler Freiheit, (Ko-)Kreativität und (wechselseitiger) Transformation, von Übergangs- und tertiären Formationen und der Unmittelbarkeit, Lebendigkeit und Emergenz neuer prä-psychischer, intrapsychischer, interpsychischer, intrasubjektiver und intersubjektiver Vorgänge in der Entwicklung wie auch in der psychoanalytischen Situation ist für viele von ihnen charakteristisch. Unterschiede und Ähnlichkeiten inmitten der komplexen Weiterentwicklungen und gegenseitigen Befruchtungen psychoanalytischer Feldtheorien und -konzepte in allen drei Regionen der IPV werden anschaulich, wenn die Theorie in die klinische Praxis übersetzt wird – als „gesteuerte“ und „diffuse“ Ausrichtung der Aufmerksamkeit mit je unterschiedlicher Fokussierung verschiedener Übertragungstypen. Kontroversen (Asymmetrie versus Gemeinsamkeit, das Sich-Einlassen des Analytikers auf Phantasie-

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