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die durch eine gedankenlose Anwendung des Rahmens drohende Entfremdung. Ihr Konzept der unvermeidlichen „Gewalt der Deutung“ versetzt die frühe Bezugsperson und den Analytiker in die gleiche paradoxe Position, eine „exzessive“ Deutung zu riskieren. Diese Warnung veranlasste französisch sprechende Analytiker auf beiden Seiten des Atlantiks, Vorbehalte bezüglich eines unkritischen Gebrauchs der Gegenübertragung zu äußern. Besonders sensibel beurteilen französische Autoren das dem analytischen Setting inhärente – sowohl notwendige als auch missbräuchliche – „Verführungspotential“. Donnet (2001 [2001]) unterscheidet zwischen dem analytischen Setting und der Situation des Analysierens : „[D]as analytische Setting (site) enthält die gesamten Elemente, die die Analyse offeriert. Dazu gehört auch der Analytiker bei der Arbeit“ (S. 43). Und weiter heißt es: „[D]ie Situation des Analysierens ergibt sich, unsystematisch, aus der hinreichend adäquaten Begegnung zwischen dem Patienten und dem Setting (site)“ (ebd.). Die beiden wichtigsten Quellen für die aktuelle theoretische Auseinandersetzung mit dem Setting sind Winnicott (1956) und Bleger (1967). Gelegentlich wird auch die Feldtheorie von Willy und Madeleine Baranger (1983) angeführt, die die analytische Situation als eine Ko-Kreation von Patient und Analytiker konzipieren. Beide Partner sind untrennbar miteinander verbunden; keiner kann ohne den anderen verstanden werden. Das analytische Feld konfiguriert sich als eine unbewusste Phantasie des analytischen Paares, die als solche im gesamten Verlauf der Analyse untersucht und bearbeitet wird. André Greens (1975 [1975]) wegweisender Beitrag „Analytiker, Symbolisierung und Abwesenheit im Rahmen der psychoanalytischen Situation: über Veränderungen der analytischen Praxis und Erfahrung“ war der Erinnerung an Winnicott gewidmet, dessen Werk Green in Frankreich eingeführt hatte. Greens Lesart zufolge bilden der Rahmen und die Qualität der analytischen Präsenz die aktuelle tägliche „Umwelt“, die der Fähigkeit des Patienten, einen Übergangsraum zu erleben und kreativ zu denken, zuträglich oder abträglich sein kann. „Denken“ verweist hier auf nicht-halluzinatorische, nicht-projektive Gedanken, die als Teil des Selbst subjektiviert werden. René Roussillon (1995) hat diese theoretische Überlegung weiterentwickelt. Er misst der „Schnörkeltechnik“ besondere Bedeutung bei: „Das Setting kann den Patienten dazu einladen, an einem gemeinsamen Bereich/Feld des Spielens oder des gemeinsamen Denkens teilzuhaben, in dem er auf seine individuelle Weise ‚reagieren‘ kann“. Darauf aufbauend, wird er entweder vom Analytiker „gehalten“ oder bekommt eine Deutung. Der Analytiker und sein Setting werden zu einem „formbaren Medium“ im Sinne der Objektverwendung (Roussillon 1988, 1997, 2013).
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