Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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abgelöst. Vor allem die charakteristische Interaktion zwischen zwei gegensätzlichen Kräften blieb durchgehend erhalten. Der Dualismus seiner sich entwickelnden Triebtheorie spiegelte, wie Freud (1920g) erklärte, die von Grund auf konflikthafte Natur der menschlichen Psyche wider. Die aufeinanderfolgenden Formulierungen der dualistischen Triebtheorie Freuds entsprechen der in Entwicklung begriffenen Klassifizierung einander entgegengesetzter Triebkräfte. Zu diesen Formulierungen zählten: 1. Selbsterhaltungstriebe versus Sexualtriebe (1905-1914), 2. Ich-Triebe versus Sexualtriebe (1914-1920), beruhend auf der Weiterentwicklung von Ichlibido versus Objektlibido 3. Lebenstriebe oder Eros (einschließlich der Selbsterhaltungs- und der Sexualtriebe) versus Todestrieb oder Thanatos (ab 1920 bis 1939). In den ersten beiden Phasen bestand der Gegensatz zwischen einem Trieb, das individuelle Ich zu erhalten (durch die Befriedigung der Grundbedürfnisse, etwa der Ernährung), und dem Streben nach sexueller Lust (im Dienst des Erhalts der Art, und zwar sogar unter Inkaufnahme des Risikos, das Individuum in Gefahr zu bringen). In der ersten Phase (1905-1914) wurden “Selbst” und “Ich” oft austauschbar benutzt, während der Sexualtrieb im Rahmen des Konzepts der infantilen Sexualität weiter gefasst wurde; in der zweiten Phase (1914-1920) wurde der Gegensatz durch die narzisstische Besetzung des Ichs oder die anaklitische Besetzung der Objekte definiert. In der dritten Phase (1920-1939) bestand der Gegensatz zwischen dem Bemühen von Eros, das Leben zu erhalten und zu verlängern, und dem Todestrieb, der mutmaßlich auf seine Beendigung drängt. Eros brachte Entitäten zusammen und erhöhte das Gesamtniveau an psychischer Energie, während der Todestrieb Verbindungen auflöste und Druck erzeugte, in einen anorganischen Zustand zurückzukehren. Diese dualistischen Formulierungen können auch als eine Reihe von Erweiterungen und konzeptuellen Weiterentwicklungen des Triebverständnisses betrachtet werden (Skelton 2006; Mijolla 2003/2005; Auchincloss und Samberg 2012). In diesem Kontext sind drei sukzessive “Schritte” in Freuds Triebtheorie auszumachen: eine “Erweiterung des Begriffs der Sexualität” und die “Aufstellung des Narzißmus” sowie die “Behauptung des regressiven Charakters der Triebe” (Freud 1920g, S. 64). Diese Schritte lassen sich zurückführen auf wichtige Werke Freuds, nämlich erstens auf die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” (1905d), auf “Zur Einführung des Narzißmus” (1914c) und die metapsychologischen Schriften von 1915, nämlich “Triebe und Triebschicksale” (1915c), “Die Verdrängung” (1915d) und “Das Unbewusste” (1915e), sowie schließlich auf Jenseits des Lustprinzips (1920g). Im ersten Schritt wurde der Sexualtrieb in Partialtriebe zerlegt; damit einhergehend wurde die Bedeutung der infantilen Sexualität hervorgehoben. Im zweiten Schritt wurden neue psychische Formationen größerer Dimension untersucht, zum Beispiel das Ich und der Narzissmus. In dieser Phase wurden der Trieb, sein Drängen und seine psychischen Repräsentanten klar definiert. Mit dem dritten Schritt wurden Lebenstrieb und Todestrieb postuliert, ein Dualismus gewaltiger Proportionen, unter den fortan das gesamte psychische Leben und

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