Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Das deutsche Wort “Trieb” unterstreicht weniger die Stabilität des Ziels und des Objekts als vielmehr die Unwiderstehlichkeit des Drängens (die Verbform zu “Trieb” ist dementsprechend “treiben”). Insgesamt prägte Freud mehr als 45 Wortbildungen auf der Grundlage von “Trieb”, etwa Triebkonflikt , von Strachey übersetzt als “instinctual conflict”, und Trieblehre . Darüber hinaus hat Freud die Triebe hochdifferenziert beschrieben, zum Beispiel als Sexualtriebe, Ich-Triebe, Selbsterhaltungstrieb, Aggressionstrieb, Destruktionstrieb, Bemächtigungstrieb, Lebenstrieb, Todestrieb, Wisstrieb, sozialer Trieb und Partialtriebe. In der englischsprachigen nordamerikanischen Psychoanalyse hat sich die Terminologie von “instincts” über “instinctual drives” zu “drives” gewandelt. Ganz ähnlich wie in Europa konnotiert der Ausdruck “instinct” in der postfreudianischen nordamerikanischen Psychoanalyse etwas ganz anderes als seine Verwendung in der Biologie und Ethologie, insbesondere was die Erforschung des Verhaltens der Tiere betrifft (Lorenz 1963; Tinbergen 1951; Wilson 1975). Im Einklang mit Freuds Verwendung von “Trieb” (Freud 1915c) bezeichnen nordamerikanische Autoren mit “instinct” die psychische Repräsentation (zumeist in Gestalt von Wünschen) der aus somatischen Prozessen hervorgehenden Stimuli. Im nordamerikanischen Begriffsgebrauch wird einem “instinct” keine spezifische Verhaltensreaktion zugeschrieben – im Gegensatz zu der Verwendung des Wortes in der Ethologie, wo es sich immer auf ein spezifisches, reflexhaftes Verhaltensmuster bezieht. Während der nordamerikanische Gebrauch des Begriffs “instinct” auf Freuds “Trieb” in [der englischen Übersetzung von] “Triebe und Triebschicksale” (1915c) zurückgeht und sich auf die “erste” oder “zweite” der “dualen Triebtheorien” bezieht, begannen frühe postfreudianische Autoren, die ein Vermächtnis in Nordamerika hinterlassen haben (Hartmann 1948; Schur 1966), den Ausdruck “instinctual drive” zu verwenden, um die bio-psychischen Merkmale des Konzepts zu integrieren. Nach Meinung Hartmanns und Schurs bewahrt der Ausdruck “instinctual drive” die somatische Grundlage von “Trieb”, vollzieht aber eine Abtrennung von den reflexhaften und verhaltensbezogenen Konnotationen. Der nächste Schritt in der Ausarbeitung der Triebtheorie von 1920 bestand in der Einführung der Terminologie “libidinal instinctual drive” für „libidinöser Trieb“ und “aggressive instinctual drive” für „aggressiver Trieb“ (Akhtar 2009). Dies trug zu einer progressive “Psychologisierung” des “Triebs” in der nordamerikanischen Psychoanalyse bei, wie es die Schriften von Edith Jacobson (1964), Hans Loewald (1971, 1978), Fred Pine (1988) und anderen zeigen. Die Formulierung “instinctual drive” hat zu Kontroversen über den Ursprung der Triebe beigetragen. Es gab einerseits eine Gruppe von Analytikern (siehe z.B. Brenner 1982a), die sie für angeboren hielten, und andere (z.B. Kernberg 1976), die den Begriff “instinctual components” – zumeist mit “Triebkomponenten” ins Deutsche übersetzt – als Synonym für “Affekte” verwenden oder mit ihm auf eine entsprechende enge Beziehung zwischen Trieb und Affekt verweisen. Dies stimmt mit dem vorherrschenden biologischen Verständnis überein, wonach als “instincts” angeborene Muster der Wahrnehmung, des Verhaltens,

817

Made with FlippingBook - Online magazine maker