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ausformuliert. Von dieser Ambiguität profitierten die späteren theoretischen Entwicklungen in der französischen Tradition Nordamerikas und Europas (Scarfone, Laplanche, Denis). Noch 1913 wiederholt Freud in “Die Disposition zur Zwangsneurose”, dass der Sadismus an die Partialtriebe gebunden ist und der anal-sadistischen prägenitalen Organisation entspricht. Wenn sie den genitalen Trieb ersetzen, taucht der Sadismus auf (1913i, S. 448). In dieser Phase seiner Theoriebildung betrachtet er den Masochismus als “nichts anderes […] als eine Fortsetzung des Sadismus in Wendung gegen die eigene Person, welche dabei zunächst die Stelle des Sexualobjekts vertritt” (1905a, S. 57f.). All diese Entwicklungen implizieren einen Konflikt zwischen den Trieben, der sich im Subjekt selbst abspielen kann, das gleichzeitig als Subjekt wie auch als Objekt agiert. Alternativ kann es zum Konflikt zwischen einem Subjekt und einem äußeren Objekt kommen, das die Tendenzen entweder der verdrängten Sexualtriebe oder aber der verdrängenden Ich-Triebe vertreten kann. Die Aggression als eine universal und von all den Trieben unabhängige Eigenschaft kann sich zu bestimmten Zeiten verselbständigen und in einer der Konfliktparteien erstarken, um ihr Ziel, bei dem es sich um das Verschwinden des unbewusst auf Ausdruck drängenden Sexualtriebs handeln kann, zu erreichen. Die Dramatisierung des Kampfes kann im Subjekt selbst stattfinden, das die Rolle des verdrängenden Ichs annimmt und gleichzeitig das Objekt seiner eigenen verdrängten Sexualtriebe ist. Sie kann auch durch eine interaktive Bindung an einen äußeren Anderen repräsentiert werden. In diesem Fall “tötet” der aggressive Ich-Trieb den Sexualtrieb im Anderen, oder der Sexualtrieb “tötet” die Ich- oder Selbsterhaltungstriebe des Ichs, zerstört die Symbolisierungsprozesse und schließlich das Leben selbst, wenn solche Ich-Triebe sich dem exklusiven Streben nach Befriedigung der Sexualtriebe, die sadistisch geworden sind, entgegenstellen. In jedem Fall spielt die Aggression hier nur eine Nebenrolle in dem dynamischen und ökonomischen Prozess der Sexualtriebe und der Ich- oder Selbsterhaltungstriebe. Vor 1910 waren die Ich-Triebe ausschließlich Selbsterhaltungstriebe, und daher waren diese Begriffe, so wie Freud sie verwendete, austauschbar. Die Unterschiede zwischen Selbsterhaltungstrieben (Ich-Trieben) und Sexualtrieben beruhen letztlich auf der Quelle und dem Ziel. So gründet beispielsweise der orale Selbsterhaltungstrieb in den Stoffwechselprozessen, die das Bedürfnis und den Hunger nach Nahrung hervorrufen, damit der Kalorienbedarf des Körpers gedeckt werden kann; das Ziel wiederum ist die durch Nahrungsaufnahme vermittelte Befriedigung. Andererseits ist die Quelle der sexuellen oralen Triebe der Stimulus der oralen erogenen Zone, und das Ziel ist das durchs Saugen vermittelte Lustempfinden. Das Objekt der Selbsterhaltungstriebe ist die Brust, die Milch liefert, oder ein entsprechender Ersatz, während das Objekt der Sexualtriebe sowohl die Brust oder die Brustwarze als auch ein Finger oder ein anderes Objekt, an dem gesaugt werden kann – sogar die Zunge selbst –, sein kann.
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