Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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II. Bb. Die Grundregel in der topischen Theorie Der „folgenschwerste Schritt“, wie Freud (1924f, S. 410) selbst es ausdrückte, erfolgte Ende der 1890er Jahre mit der Aufgabe der Hypnose zugunsten der freien Assoziation. Seither forderte er seine Patienten auf, frei, ohne jede Zensur ihrer Gedanken, zu sprechen. Die topische Theorie der Systeme Bw, Vbw und Ubw (Freud 1900a) postulierte, dass die im Unbewussten gestaute Phantasie und ihre Energie in Symptome umgewandelt werden, wenn die vorbewusste Zensur das Bewusstwerden unannehmbarer Gedanken verhindert. Angst (durch die Widerstand aktiviert wird) wurde in dieser Phase der Theorieentwicklung auf die Verdrängung zurückgeführt: Angst als Nebenprodukt aufgestauter Libido (sexueller Erregung). Diese Theorie der Symptombildung hatte technische Implikationen. Das vornehmste Ziel des psychoanalytischen Behandlers bestand darin, Libido durch Bewusstmachung unbewusster libidinöser Wünsche freizusetzen. Dem frühen topischen Modell zufolge sind Widerstände Barrieren, die es zu überwinden gilt , während Widerstände in der Hypnosephase vollständig umgangen wurden. Im Anschluss an die Bewusstmachung der Widerstände konnte der Psychoanalytiker verschiedene Methoden benutzen (z.B. die Betonung der Vorteile guter Gesundheit, die Nutzung der positiven Übertragung usw.), um den Prozess des freien Assoziierens wieder anzuregen. In der Traumdeutung beschreibt Freud (1900a) einen Zustand der ruhigen Selbstbeobachtung, in dem jegliches Urteilen und Bewerten der eigenen Gedanken mit dem Ziel unterdrückt wird, unzählige ungewollte Vorstellungen ins Bewusstsein aufsteigen zu lassen, die man „zur Analyse der Träume und pathologischen Ideen benützt“ (S. 106f.): „Man sagt ihm [dem Patienten] also, der Erfolg der Psychoanalyse hänge davon ab, daß er alles beachtet und mitteilt, was ihm durch den Sinn geht , und nicht etwa sich verleiten läßt, den einen Einfall zu unterdrücken, weil er ihm unwichtig oder nicht zum Thema gehörig, den anderen, weil er ihm unsinnig erscheint. Er müsse sich völlig unparteiisch gegen seine Einfälle verhalten; denn gerade an der Kritik läge es, wenn es ihm sonst nicht gelänge, die gesuchte Auflösung des Traums, der Zwangsidee u. dgl. zu finden.” (S. 105; Hervorhebg. ergänzt) In einer Fußnote zur englischen Übersetzung von “Die Freudsche psychoanalytische Methode” (Freud 1904a [1903]) weist Strachey (S. 250) darauf hin, dass Freud in dieser Phase weiterhin Aspekte aus der Hypnosephase benutzte, zum Beispiel die Aufforderung an den Patienten, die Augen geschlossen zu halten. Doch auch diese Reminiszenz gab Freud nach 1903 auf. In Zur Psychopathologie des Alltagslebens schildert Freud (1901b) zahlreiche Beispiele, die illustrieren, dass das freie Assoziieren den Weg zu den durch

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