Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Der zweite Text ist „Trauer und Melancholie“ (Freud 1916-17g [1915]). Hier wird die Melancholie als Folge aggressiver Angriffe auf ein internalisiertes Objekt erklärt, mit dem das Ich identifiziert ist und das es verloren hat . Dass das (fehlende) Objekt eine Rolle spielt, ist es auch hier klar, wenngleich diese nach wie vor im Rahmen des Triebmodells formuliert wird. Die Rolle des Objekts und seine Bedeutung in Bezug auf den Trieb erhielt erst zentralen Rang, nachdem Melanie Kleins Modell sich im europäischen Mainstream durchgesetzt hatte. Zusammen mit John Bowlby und W. R. D. Fairbairn (dessen Überlegungen denen Sullivans trotz aller Differenzen entsprechen) hat sie Traditionen begründet, die dem Objekt Bedeutsamkeit beimaßen – manchmal auf Kosten des Triebes.

III. Bb. Britische Objektbeziehungstheorie

III Bba. Ronald Fairbairn Fairbairn (2000 [1952]) formulierte auf der Grundlage der Zielgerichtetheit des Triebes zwei weitere Thesen: 1. „ Das eigentliche Ziel der Libido ist das Objekt“ (2000 [1941], S. 60); 2. Energie und Struktur sind „untrennbar miteinander verbunden“ (2000 [1944], S. 160). Er kommt zu dem Schluss, dass „‘Triebregungen‘ […] nun einmal zwangsläufig an Objektbeziehungen gebunden“ und „[d]aher schlicht als der dynamische Aspekt der Ich-Strukturen zu betrachten“ sind (2000 [1951], S. 190). Mit seiner Objektbeziehungstheorie postuliert Fairbairn, dass reale Beziehungsvorgänge zu separaten Selbst-Objekt-Formationen oder -Strukturen organisiert werden, die auf der Verdrängung internalisierter Objekte beruhen. Auf diese Weise entstehen die Beziehungen zentrales Ich – Idealobjekt, libidinöses Ich – erregendes Objekt sowie antilibidinöses Ich – zurückweisendes Objekt. Im Gegensatz zu Freud betrachtet Fairbairn „das libidinöse Ich (das dem ‚Es‘ entspricht) als abgespaltenen Teil des ursprünglichen, dynamischen Ichs“ (2000 [1946], S. 182). Während Fairbairns zentrales Ich – Idealobjekt, libidinöses Ich – erregendes Objekt und antilibidinöses Ich – zurückweisendes Objekt später als Übervereinfachung kritisiert wurden, haben seine klinischen Studien, in denen er demonstrierte, dass die Pathologie der Sexualentwicklung aufs engste mit den sich herausbildenden Mustern der intrapsychischen und interpersonalen Entwicklung zusammenhängt, breite Anerkennung gefunden und als wesentlicher Beitrag überdauert. Seine Analyse der Spaltung bei Patienten mit schizoiden Tendenzen diente als fruchtbarer Hintergrund für das Verstehen späterer Strukturmodelle der Internalisierung von Objektbeziehungen (Kernberg 1977). Fairbairn (2000 [1946]) zählte wahrscheinlich zu den extremsten “Objektbeziehungs”-theoretikern in der Geschichte der Psychoanalyse. Wie schon erwähnt, wurden die Triebe ursprünglich in Bezug auf Lustprinzip und Konstanzprinzip verstanden. Gemäß diesem Modell wird ein Spannungsanstieg als unlustvoll empfunden, während Triebabfuhr und Spannungssenkung als lustvoll wahrgenommen

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