Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Reife, aktive Objektliebe, wie Balint (1988 [1935]) sie beschreibt, geht mit einer Wiederholung der Urbefriedigung entlang zahlreicher Entwicklungspfade einher: „So gesehen, rücken die prägenitalen Objektbeziehungen, die prägenitalen Liebesformen in ein anderes Licht. Sie können nicht mehr sozusagen biologisch erklärt werden, sondern wir müssen sie mit einem vielleicht etwas starken Worte als Kunstprodukte betrachten“ (S. 63). Primäre Phänomene der Freud’schen Triebtheorie werden hier als Ergebnis eines Versagens der frühen Umwelt verstanden, aus dem eine „Grundstörung“ hervorgeht. Aggression wird konsequenterweise als Reaktion auf Frustration verstanden und nicht als ein Ziel an sich; dementsprechend ist Hass laut Balint (1951) immer ein reaktives, sekundäres Phänomen und nicht eine der Manifestationen basaler primärer Triebe. In ähnlicher Weise definiert er den primären Narzissmus neu, nämlich als eine libidinöse Besetzung der Autoerotik, wenn das Kind „zu wenig bekommen“ hat. Die Unterscheidung zwischen „gutartigen“ und „bösartigen“ Formen der Regression (Balint 1987 [1968], S. 129ff.) kann als ein klar definiertes „Mischmodell“ verstanden werden. Erstere zeigt sich in der therapeutischen Beziehung auf der Grundlage primärer Beziehungsbedürfnisse, letztere auf der Grundlage infantiler Trieblust. Dementsprechend behandelte Balint die therapeutischen Aspekte der Regression seiner revidierten objektbeziehungstheoretischen Psychopathologie. (Siehe auch die Einträge REGRESSION und OBJEKTBEZIEHUNGSTHEORIEN.) Ferenczi (und Balint) werden von vielen nordamerikanischen Objektbeziehungstheoretikern als Vorläufer des relationalen Denkens und der relationalen Behandlungstechnik betrachtet. In der entsprechenden Theoriebildung werden die Regression und der Triebaspekt menschlicher Motivation jedoch gering gewichtet.

III. Bc. Weitere und zeitgenössische Entwicklungen in Europa

III. Bca. Integration von Triebtheorie und objektbeziehungstheoretischen Konzepten: die Frage der Motivation Seit den 1980er Jahren ist der Stellenwert des Triebs (vor allem in der englischsprachigen Psychoanalyse) Teil der Diskussion über menschliche Motivation. Motivation ist offenkundig eine der basalen Dimensionen der Psychoanalyse (Psychoanalytiker suchen nach dem, was Menschen veranlasst, so zu denken, zu fühlen und zu handeln, wie sie es tun; was treibt sie an?). In heutiger Zeit stehen die Objektbeziehungen im Zentrum der psychoanalytischen Motivationstheorie. Joseph and Anne-Marie Sandler (Sandler und Sandler 1998) begannen mit einem klassischen ich-psychologischen Verständnis der Motivation, bevor sie nach und nach innere Objekte in ihre Theorie zu integrieren begannen. Der grundlegende Motivationsfaktor ist der Wunsch, der ein Triebwunsch sein kann, aber nicht muss.

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