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Traditionell wird die Symbolik in Nordamerika als ein im Primärvorgang wurzelnder Triebabkömmling betrachtet, der einer Wahrnehmungsidentität näher kommt und inhaltlich relativ beschränkt ist auf verkleidete Darstellungen des Körperselbst, infantiler Objekte, Geburt und Tod sowie damit einhergehender infantiler Konflikte und Erfahrungen. Die Symbolik des Primärvorgangs unterscheidet sich von einem phylogenetischen protosymbolischen Komplex, einer undifferenzierten semiotischen Funktion, die den symbolischen Prozessen des Sekundärvorgangs und des rationalen Ichs vorausgeht und sie begleitet. Traditionell geht man davon aus, dass die psychoanalytische Symbolik unabhängig von Sprache und Kultur ist und über relativ universale Formen, Eigenschaften und Beziehung zu Verdrängung und archaischen Ich-Funktionen verfügt. Auch wenn psychoanalytische Symbolik nicht essenziell kommunikativ ist, kann sie in den Dienst von Sublimierung und Anpassung gestellt werden. In den vergangenen Jahren haben allerdings einige nordamerikanische Autoren auf Freuds Abhandlung „Über den Gegensinn der Urworte“ (Freud 1910e) verwiesen, wo er, seine eigene Überlegung aus der Traumdeutung zitierend, schreibt: „Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die Kategorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg vernachlässigt. Das ‚Nein‘ scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt” (S. 214). Sodann führt er Abels Arbeit über die ägyptische Sprache an, in der Gegensätze nebeneinander stehen, ohne sich gegenseitig auszuschließen, und zitiert dessen Schlussfolgerung: „Angesichts dieser und vieler ähnlicher Fälle antithetischer Bedeutung […] kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es in einer Sprache wenigstens eine Fülle von Worten gegeben hat, welche ein Ding und das Gegenteil dieses Dinges gleichzeitig bezeichneten. Wie erstaunlich es sei, wir stehen vor der Tatsache und haben damit zu rechnen.” (S. 216) In einer relativ neuen Interpretation der Genese des Symbolisierungsprozesses bei Freud unterstreichen einige zeitgenössische nordamerikanische Autoren die sprachlichen Grundlagen von Widerspruch und Gegensatz. Dabei folgen sie Freuds Ohr für Sprichwörter und Aphorismen, die sprachliche Widersprüche in scheinbar endlosen Variationen enthalten. So zeigt Gediman (2011) Parallelen zwischen Sprichwortpaaren auf, die widersprüchliche Lehren enthalten, und psychoanalytischen Thesenpaaren, die auf ähnliche Weise widersprüchliche Botschaften und Denkrichtungen kommunizieren. Dabei sucht er nach Parallelen zwischen der Struktur der Sprache in altbewährten Redewendungen und den Strukturen scheinbar unterschiedlicher Weisen des Zuhörens und unterstreicht die ubiquitäre Multiplizität und Widersprüchlichkeit in der Sprache der Aphorismen und Sprichwörter, zum Beispiel: „Schweigen ist Gold“ und „Ein Rädchen, das nicht quietscht, wird nicht geschmiert“ (S. 623). In dieser spezifischen Interpretation des Freud’schen Verständnisses der Symbolik (in Träumen und unbewussten Phantasien) sind der Prozess der Symbolik des Primärvorgangs (in Träumen und Phantasien) und der Prozess der Symbolik des Sekundärvorgangs (in kommunikativer Sprache) jeweils in beide Richtungen aktiv.
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