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II. B. Andere frühe Theoritiker
II. Ba. Karl Abraham In seinem kurzen, nie ins Englische übersetzten Beitrag „Einige Bemerkungen über den Mutterkultus und seine Symbolik in der Individual- und Völkerpsychologie“ erörterte Abraham (1982 [1911a]) symbolische Mutterdarstellungen in unterschiedlichen Kulturen. Sie zeigen entweder ein einsam gelegenes Haus in einem Garten oder Wald oder einen verborgenen Raum mit engem Zugang und sind vergleichbar mit verwandten Mythologien: dem Garten Eden und Noahs Arche. Noah bewohnt die Arche 9 Monate lang, was exakt der Dauer der menschlichen Schwangerschaft entspricht. Um die Universalität solcher symbolischen Darstellungen zu unterstreichen, erläuterte Abraham auch einen kaum bekannten russischen Kultus des mütterlichen Körpers. In der ersten wie auch zweiten Auflage seiner erstmals 1911 veröffentlichten Schrift „Giovanni Segantini. Ein psychoanalytischer Versuch“, die 1937 in englischer Übersetzung erschien, erläutert Abraham (1982 [1925]) eine vom mütterlichen Körper hergeleitete unbewusste Symbolik und entsprechende Sublimierungsprozesse. Gestützt auf eigene Schriften des bedeutenden Malers Segantini schildert er detailliert die allmähliche symbolische Substitution / Transformation / Sublimierung früher Bildvorstellungen und Phantasien des Malers, die den Körper seiner Mutter betrafen, und die so entstandenen unvergesslichen Bilder der Alpenlandschaft mit wunderschönen Blumen und dramatischen Naturerscheinungen. Abraham stützt seine These der symbolischen Ersetzung/Transformation auf Meisterwerke wie „Die beiden Mütter“, „Frühling in den Alpen“, „Das Pflügen“, „Rückkehr ins Heimatland“ und andere Bilder. Interessanterweise hatte Segantini seine Mutter im selben Alter, nämlich kurz vor dem fünften Geburtstag, verloren wie Leonardo da Vinci. Und es ist Freuds Abhandlung „Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“ (Freud 1910c), auf die Abraham Bezug nimmt und an die er anknüpft. In beiden Beiträgen betreffen die symbolischen Prozesse die symbolische Bearbeitung der infantilen Sexualität, zu der große Künstler einen außergewöhnlichen Zugang haben, der ihnen als Quelle kreativer Sublimierung im weitesten Sinn dient und sowohl orale wie auch anale und ödipale Symbole umfasst. Die allgemeinen Themen des Gesichts und Körpers der Mutter als erste ästhetische Symbole sind von vielen späteren Autoren unterschiedlicher theoretischer Richtungen weiterentwickelt worden, etwa unter dem Blickwinkel der Bindungstheorie oder der von Bion beschriebenen Reverie (Bucci 2003; Civitarese 2015). Schon in der 1911 erschienenen ersten Auflage seiner Segantini-Arbeit postulierte Abraham (1983 [1925]), dass Sublimierung und symbolische Darstellung innerer Konflikte sowohl eine Abwehr- als auch eine Wiedergutmachungsfunktion erfüllen können. Dieses Thema wurde später von Melanie Klein weiter ausgearbeitet.
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