Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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[…] ein, alles mit zu sagen, was ihnen dabei durch den Kopf geht, auch wenn sie meinen, es sei unwichtig, oder es gehöre nicht dazu, oder es sei unsinnig Mit besonderem Nachdrucke aber wird von ihnen verlangt, daß sie keinen Gedanken oder Einfall darum von der Mitteilung ausschließen, weil ihnen diese Mitteilung beschämend oder peinlich ist.“ (S. 5f) Indem er die Methode der freien Assoziation auf die beschriebene Weise nutzte, konnte Freud etwas beobachten, das er als wichtig für seine Theorie erkannte: Die Erinnerung des Patienten weist infolge eines Verdrängungsprozesses Lücken auf, und jeder Versuch, diese zu ergründen, ruft einen Widerstand hervor. Als Freud im Jahre 1909 seine Krankengeschichte über den „Rattenmann“ verfasste, beschrieb er eine besondere Art des Zuhörens, die ein unverzichtbares Pendant zu den freien Assoziationen des Patienten bildet: Der Analytiker hört nicht lediglich die manifeste Botschaft, die ihm mitgeteilt wird, sondern auch eine verborgene, die sogar dem Erzähler selbst unbekannt ist. Nach und nach erst lernt er, diese getarnte Botschaft und ihre Beziehung zur manifesten Erzählung in jedem individuellen Fall zu verstehen, indem er „sein Zuhören auf das konzentriert, was gesagt wird, wie es gesagt wird, wann und in welchem Kontext es gesagt wird, was nicht gesagt wird, sondern absichtlich oder unwissentlich ausgelassen wird; und schließlich auf ausbleibende Kommunikation – Schweigen“ (Loewenstein 1963, S. 456). In den fünf Vorlesungen Über Psychoanalyse schildert Freud (1910a) die Entwicklung der Methode rückblickend mit folgenden Worten: „Weil ich den psychischen Zustand meiner meisten Patienten nicht nach meinem Belieben [durch Hypnose] verändern konnte, richtete ich mich darauf ein, mit ihrem Normalzustand zu arbeiten. Das schien allerdings vorerst ein sinn- und aussichtsloses Unternehmen zu sein. Es war die Aufgabe gestellt, etwas vom Kranken zu erfahren, was man nicht wußte und was er selbst nicht wußte; wie konnte man hoffen, dies doch in Erfahrung zu bringen?” (S. 19) Sodann beschreibt er seine Methode. Er hat zwar das Drängen wie auch die direkte Suggestion aufgegeben, macht sich aber weiterhin die Autorität als Arzt zunutze, der erklärt, dass der Patient “wisse”, was auszusprechen ihm schwerfalle: “[W]enn ich unter Verzicht auf die Hypnose in meine Kranken drang, mir doch mitzuteilen, was ihnen zu dem eben behandelten Problem einfiele — sie wüßten ja doch alles angeblich Vergessene, und der auftauchende Einfall werde gewiß das Gesuchte enthalten — so machte ich tatsächlich die Erfahrung, daß der nächste Einfall meines Kranken das Richtige brachte und sich als die vergessene Fortsetzung der Erinnerung erwies.” (S. 29) Mit dem Verzicht auf Hypnose und Suggestion führte Freud eine bedeutsame Veränderung in die psychoanalytische Technik ein, indem er die Patientin ungehindert sprechen ließ. Gleichwohl bleibt der Einfluss der Autorität des Analytikers spürbar, und

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