Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Aggression eine Vorlust und in der endgültigen Aggressionsabfuhr deutliche Anzeichen für Lust beobachten könne. Verkompliziert wird die Angelegenheit durch die häufige Mischung der beiden Triebe. So folgen die Abfuhrmuster der Aggression häufig den Mustern bestimmter Stadien der Libido, insbesondere aus der oralen und der analen Phase. Was die Wut betrifft, so hatten die Autoren den Eindruck, dass sich eine langanhaltende Beeinflussung aggressiver Abfuhrmuster durch die Analität mühelos beobachten lasse. Während die Aggression demnach zu einem gewissen Grad den Phasen der Libido in ihrer Bindung an bestimmte Zonen wie die orale, anale und phallische entspricht, ist das wichtigste Organ für die Abfuhr des Aggressionstriebs die Skelettmuskulatur. Insofern folgt die Entwicklung des Triebs auch der Entwicklung dieser Muskulatur in Aktivitäten wie Beißen, Greifen, Schlagen, Gehen und Rennen. Was die Interaktion der Triebe und des Ichs betrifft, so formulierten Hartmann (1972 [1950], 1972 [1952]) und seine Mitarbeiter (Hartmann, Kris und Loewenstein 1949; Kris 1955) das Konzept der Triebneutralisierung als Ich-Funktion. Sie sahen sich durch ihre Beobachtungen zu dem Schluss veranlasst, dass diese Fähigkeit schon in sehr früher Kindheit, noch vor dem Auftauchen eines organisierten Ichs, in irgendeiner Form vorhanden sei und sich dann weiterentwickele. Neutralisierung bedeutet demnach die Veränderung von Triebzielen und Triebintensität, so dass die Triebenergie für verschiedenartige Zwecke besser nutzbar wird. Dies knüpft an Freuds (1900a) Überlegung an, dass die Bindung der Libido, die im Primärvorgang ungebunden und frei verschiebbar ist, den Übergang zum Sekundärvorgang markiere. Hartmann unterschied die Neutralisierung des Triebs von der Verschiebung der Triebenergie und der Triebmischung. Ein Kind, das ein neues Geschwisterchen verletzen und umbringen möchte, stattdessen aber Fliegen die Flügel ausreißt, zeigt Verschiebung ohne Neutralisierung oder Triebmischung. Wenn es das Baby provoziert oder allzu fest an sich drückt, zeigt es gegenüber dem Objekt zumindest eine anfängliche Mischung von Libido und Aggression. Wenn es in Kraftproben oder Spielen mit einem jüngeren Geschwisterkind rivalisiert, zeigt es eine partielle Neutralisierung der Aggression ohne Verschiebung und ein geringes Maß an Triebmischung. Hartmann und seine Mitarbeiter untersuchten insbesondere die Verwendung neutralisierter Aggression für den Aufbau von Strukturen im Ich, aber auch für andere Zwecke. Sie behaupteten, dass neutralisierte aggressive Triebenergie in den Aufbau der Grenzen zwischen Selbst und Anderen sowie der intrapsychischen Grenzen, z.B. der Verdrängungsschranke, einfließe. In regressiven Zuständen wie etwa einer drohenden Psychose, bei Borderline-Regressionen und Traumata kommt es ebenfalls zu einer regressiven Freisetzung großer Quantitäten roher Aggression, was Hartmann (1972 [1953]) als Beweis dafür anführt, dass am Aufbau dieser intrapsychischen und interpersonalen Grenzen partiell neutralisierte Energie des Aggressionstriebs beteiligt ist. Die Differenzierung der Rollen von Libido und Aggression haben Ich- Psychologen in detaillierten Konzipierungen unterschiedlicher Prozesse herausgearbeitet. Kris (1956a, 1956b) versuchte anhand von detailliertem klinischen

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