Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Geometrie) und die Philosophie der Mathematik als einen frühen Versuch, die Psychose zu begreifen. Anhand zahlreicher Beispiele dokumentiert Sandler (2005), dass Bion nicht etwa „die Psychoanalyse mathematisiert“, sondern mit seiner Verwendung mathematischer Analogien darauf zielt, primitive Formen der Realitätswahrnehmung zu untersuchen. In ähnlicher Weise benutzt Bion (1997 [1965]), wie er selbst schreibt, Begriffe aus anderen Zweigen der Philosophie und weitere interdisziplinäre Quellen „für psychoanalytische Zwecke, weil die Bedeutung, mit der sie schon belegt sind, derjenigen Bedeutung nahekommt, die ich zu vermitteln suche“ (S. 27). Autoren, die Bion unter dem Blickwinkel von Komplexität, Ungewissheit und Unendlichkeit interpretieren (Schuster 2014, 2018; Bergstein 2018), verweisen auf die Bedeutsamkeit seines Schrittes von der Euklid’schen über die Nicht-Euklid’sche Geometrie zur Algebra, den sie als Schritt zu einer Mathematik der Veränderung, Annäherung und Transformation unendlicher Prozesse verstehen. Avner Bergstein (2018) schreibt ausdrücklich: „Heute würde er [Bion] wahrscheinlich über mathematische Komplexitätstheorien sprechen“ (S. 197). II. B. PSYCHOANALYTISCHE WURZELN Die wichtigsten psychoanalytischen Einflüsse, auf die Bion in Transformations wiederholt verweist, waren Freud und Klein. Wenn er schreibt: „Die Theorie der Transformationen und ihre Entwicklung betrifft nicht den Kernbestand der psychoanalytischen Theorie, wohl aber die Praxis der psychoanalytischen Beobachtung “, geht es ihm also nicht um eine neue Theorie, sondern um eine Neuformulierung von Freuds ursprünglicher Formulierung des von der Psychoanalyse angestrebten Ziels, das Unbewusste bewusst zu machen (Freud 1915b), oder: „Wo Es war, soll Ich werden“ (Freud 1933, S. 86). Dementsprechend heißt es bei Bion, der Analytiker versuche, „dem Patienten zu helfen, den Teil einer emotionalen Erfahrung, der ihm unbewußt ist, in eine emotionale Erfahrung umzuformen, die ihm bewußt ist“ (Bion 1997 [1965], S. 56), während die Betonung „auf dem Wesen der Transformation in einer psychoanalytischen Sitzung“ (ebd., S. 59) liegt. Laut Sandler stützt sich Bion insbesondere auf den von Freud (1912a) beschriebenen illusorischen/halluzinatorischen Charakter der Übertragung, um das Konzept ebenso wie andere Freud’sche Beiträge zu erweitern. Als Beispiele nennt Sandler u.a. Widerstand, freie Assoziation (Freud 1912b, 1913), das Zusammenspiel von manifesten und latenten Inhalten beim Tagträumen, das Unbewusste und die unbewusste Kommunikation (Freud 1915b), Gegenübertragung (Freud 1933, 1974) und „persönliches Moment“ (Freud 1916-17) mitsamt den Weiterungen durch Sándor Ferenczi (1909, 1928) und Theodor Reik (1948), Konstruktion (Freud 1938), Repräsentation, Deutung sowie Beobachtung der Genese und der Schicksale von Denkprozessen (Freud 1911). Kleins Einfluss macht sich insbesondere bemerkbar in Bions Arbeit mit dem Konzept der projektiven Identifizierung (Klein 1930, 1945, 1946), das er im Sinne einer Kommunikationsfunktion erweiterte, sowie mit den

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